Bibliothek und Wissenschaft im Zeichen der Wertschöpfung

von Rafael Ball


Abstract

1. Einleitung
2. Wissenschaft, Erkenntnis und die Rolle der Bibliothek

3. Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft als Wertschöpfungskette

4. Lesen und Gelesen werden - Publizieren in der Wissenschaft und die Position der Bibliothek

5. Zusammenfassung


1. Einleitung


Abbildung 1: Die erste wissenschaftliche Zeitschrift
Der aristotelische Grundsatz von der Erkenntnis um der Erkenntnis willen als Individualleistung des Philosophen für sich selbst, ist nicht mehr das primäre Ziel moderner Wissenschaft. Die Verbreitung der Erträge wissenschaftlichen Bemühens steht nicht nur im Interesse des Wissenschaftlers und Forschers selbst, sondern ist seit Beginn der frühen Neuzeit eine Forderung der Gesellschaft, die diesen Wissenschaftler in zunehmendem Masse selbst finanziert. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Bemühungen, die Erträge der Forschung, sind Teil der gesellschaftlichen Fortentwicklung und bedürfen der Verbreitung und Veröffentlichung. Daher sind es einerseits die Fachkollegen als Fachwelt, die an den Ergebnissen der Wissenschaft interessiert sind, andererseits die Öffentlichkeit, die Wissenschaftler finanziert und Forschung staatlich unterstützt. Die mündliche und schriftliche Kommunikation, der Austausch von Ideen und Ergebnissen waren erste Ansätze der Öffentlichmachung wissenschaftlicher Ergebnisse. Frühe bilaterale Briefwechsel sind erste Zeugnisse eines wissenschaftlichen Austauschs, lange bevor eine institutionalisierte Form der wissenschaftlichen Kommunikation selbstverständlich wurde. Mit Gründung der wissenschaftlichen Vereinigungen und Verbände, etwa der Royal Society in England und den Akademien, wurde dieser Austausch, zumindest in oraler Tradition, gefördert und alsbald in schriftlicher Form institutionalisiert. 1665 wurde die erste wissenschaftliche Zeitschrift herausgegeben (Abb. 1) und damit ein Forum geschaffen, welches für die konsequente Verbreitung von Ergebnissen wissenschaftlicher Forschertätigkeit geeignet war. Aus persönlicher Korrespondenz wurde institutionalisierter wissenschaftlicher Austausch. Doch die Veröffentlichung ist nicht Selbstzweck. Sie wird notwendiger Teil erkenntnis- und anwendungsorientierter Wissenschaft.

"In order for these formulations to be successful contributions to science, they must be communicated in such a form, so as to be comprehended and verified by other scientists and then used in providing new ground for further exploration, thus communicability becomes a salient feature of a scientific product since its recognition by peers as a unique contribution is essential to establishing a scientist success in science."1

Wissenschaft also muss publizieren und entscheidend für den Erfolg ist die frühe Publikation der Ergebnisse. Somit ist Wissenschaft nicht mehr Privatsache sondern soziale Aktivität. Nicht nur die Anzahl der Wissenschaftler stieg im 19. Jahrhundert kontinuierlich, sondern auch die Anzahl der wissenschaftlichen Zeitschriften. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts stieg sie alle 50 Jahre um den Faktor 10. Heute ist bereits die Marke von 150.000 verschiedenen Zeitschriftentiteln überschritten. Der Wissensfluss, das Publizieren und der wissenschaftliche Austausch sind neben der eigentlichen Wertschöpfung in Form von reiner Erkenntnis oder anwendbaren Ergebnissen unabdingbarer Teil des Wissenschaftsprozesses selbst geworden. Somit haben sich eine Reihe von Mechanismen und Maßnahmen herausgebildet, die in den Prozess der wissenschaftlichen Veröffentlichung integriert sind. Die Entstehung von begutachteten Zeitschriften als Qualitätskontrolle, war ein wichtiger Schritt für eine qualitativ hochwertige Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse.

Trotz Zunahme der wissenschaftlichen Aktivitäten, der Erweiterung der Fachdisziplinen und der explosionsartigen Zunahme wissenschaftlicher Ergebnisse im 20. Jahrhundert, hat sich dieses System bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts unverändert bewährt. Um der Flut an Informationen Herr zu werden, entstanden im frühen 19. Jahrhundert erste Index- und Abstract-Zeitschriften, die eine gegliederte Informationssuche nach wissenschaftlichen Ergebnissen ermöglichen sollten. Am prinzipiellen Verständnis und an der prinzipiellen herkömmlichen Veröffentlichungstechnik hat sich allerdings bis zur Entstehung digitaler Informationen nichts geändert.

2. Wissenschaft, Erkenntnis und die Rolle der Bibliothek

Wer die Rolle der Bibliothek beim Erkenntnisprozess der Wissenschaft untersuchen möchte, muss sich zunächst einmal über die bei der Gewinnung von Erkenntnis ablaufenden Prozesse in der Wissenschaft im Klaren sein. Ohne diese Voraussetzung kann die Support-Aufgabe von Bibliotheken für Wissenschaft und Forschung nicht formuliert und spezifiziert werden. Wissenschaftliche Erkenntnis bestimmt sich dabei seit Galilei, Kepler und Bacon nicht mehr aus philosophischer und theologischer Spekulation, sondern durch die "systematische Strukturierung empirischer Daten und die Durchführung kontrollierter Experimente". Somit wurden fortan alle Prozesse und Ereignisse experimentell-empirisch durchdrungen und in technologisch-wissenschaftlichen Ergebnissen festgeschrieben.2 Mag sich diese verengte Sicht auch vornehmlich auf die s.g. positiven Wissenschaften beziehen, steht doch außer Frage, dass sich auch die Geistes-, Sozial- und Geschichtswissenschaften einem transparenten und vergleichbaren Schema von Idee - Hypothese - Theorie zur Erkenntnisfindung bedienen. Hieraus folgert Kreibisch, dass unsere postindustrielle Gesellschaft weder eine Wissens-, Technologie- noch Informationsgesellschaft darstellt, sondern eine "Wissenschaftsgesellschaft", eine auf methodische und organisatorische Muster der Wissenschaft aufbauende Gesellschaft. (Diese These bleibt nicht unumstritten und so postuliert Willke das genaue Gegenteil: Die nachkapitalistische Gesellschaft sei keine Wissenschaftsgesellschaft, sondern eine Wissensgesellschaft.3) Wir wollen in dieser kurzen Einführung nicht die komplette Wissenschaftstheorie rekapitulieren und verzichten daher bewusst auf die Ausführung der Prinzipien von Induktion und Deduktion, setzen die zentralen Linien der Wissenschaftstheorie über Kuhn und Feyerabend voraus4 und wollen lediglich die Zentralprinzipien der Bildung von Hypothesen und Theorien sowie deren Verifikation und Falsifikation als Wahrheitsprüfung für die Grundlage unserer Betrachtung über den Weg wissenschaftlicher Erkenntnis und der Rolle von Bibliotheken voraussetzen. Wir wollen uns auch nicht auf die Diskussion einlassen, ob die Verifikation zu einer faktischen, empirischen, analytischen oder logischen Wahrheit führt, sondern lediglich feststellen, "dass die Form (der Aufbau) der Hypothesen, Hypothesenhierarchien und Theorien als Organon wissenschaftlicher Erkenntnis bezeichnet werden kann."5 Max Hartmann und Walter Gerlach haben in ihrem Büchlein "Naturwissenschaftliche Erkenntnis und ihre Methoden" die Umsetzung der Erkenntnistheorie etwa in der Physik trefflich beschrieben.6

3. Der Erkenntnisprozess der Wissenschaft als Wertschöpfungskette

In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bezeichnet die Wertschöpfung den Maßstab für die in den einzelnen Wirtschaftsbereichen bzw. in der Gesamtvolkswirtschaft erbrachte wirtschaftliche Leistung.

An der Harvard Business School wurde ein Analyserahmen entwickelt, der die Wertschöpfungsaktivitäten in Form einer Kette darstellt und zwischen der primären Wertschöpfung (etwa die Herstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung) und den sekundären Wertschöpfungsaktivitäten, den unterstützenden Wertschöpfungsaktivitäten also, etwa dem Materialmanagement, der EDV-Organisation, dem Marketing oder der Distribution unterscheidet. Die Wertschöpfungskette beschreibt jene Aktivitäten aneinandergereiht als zeitliche oder prozessuale Abfolge.

Das Modell der Wertschöpfungskette soll auf die in Wissenschaft und Forschung erbrachten Leistungen übertragen werden. Zwar ist der volkswirtschaftliche wie betriebswirtschaftliche Wert von Wissenschaft und Forschung kaum monetär darstellbar, da eine kurzfristige Kosten/Nutzen-Analyse sowie eine Unterscheidung in Brutto- und Nettowertschöpfung nicht durchführbar sind und ein schnelles return-of-investment dem Wesen von Wissenschaft per se zu widersprechen scheint. Dennoch können der Zugewinn an Erkenntnis (oder die konkrete Lösung eines Problems) als zu schöpfendem Wert einerseits und die dafür aufzuwendende wissenschaftliche Leistung andererseits angesehen werden. Die Wertschöpfungskette der Wissenschaft beginnt demnach mit dem Wunsch nach Erkenntnis (oder einer konkreten Fragestellung), führt dann zu einer Idee und schließlich zu einer Hypothese. Die Hypothese muss dann durch ein Experiment, durch Erhebung und Auswertung statistischer Daten oder durch Deduktion verifiziert (oder falsifiziert) werden. Am Ende der Wertschöpfungskette der Wissenschaft steht dann der Erkenntnisgewinn und/oder die Lösung eines Problems.


Abbildung 2: Die Wertschöpfungskette der Wissenschaft
Diese primäre Wertschöpfungskette der Wissenschaft wird durch mehrere sekundäre Wertschöpfungsaktivitäten unterstützt. Die Ausstattung des Labors oder das Personalmanagement sind Beispiele ebenso wie die vorhandene Informationsinfrastruktur. Die Bibliothek unterstützt den Wissenschaftler bei dessen Bemühen um Erkenntnis und Problemlösung mit einer adäquaten Informationsinfrastruktur, indem die bibliothekarischen Dienstleistungen in ihrer Unterstützungsfunktion an den verschiedensten Stellen der Wertschöpfungskette ansetzen (Abb. 2 ). In der älteren Forschung geht man davon aus, dass ein Wissenschaftler ein Drittel seiner Arbeitszeit darauf verwendet, sich mit den vorhandenen Informationen zu seinem Arbeitsgebiet vertraut zu machen.7 (Neuere derartige Untersuchungen sind dem Autor nicht bekannt.)

3.1. Erkenntniswunsch und Problemstellung

Bevor Hypothesen entwickelt und Experimente durchgeführt werden ist es selbstverständlich, sämtliche vorhandenen Informationen und die Literatur zu sichten. Hieraus schon ergeben sich bereits häufig Hinweise auf Sinn oder Unsinn der Idee oder der Frage an sich. Sie kann bereits beantwortet sein, womit der Erkenntnisprozess in der Wortschöpfungskette einen (positiven) Kurzschluss erfährt.


Abbildung 3: Der Wunsch nach Erkenntnis und die Rolle der Bibliothek
Es ist jedoch ebenfalls denkbar, dass bereits Teillösungen existieren und somit die Fragstellung abgewandelt oder angepasst werden muss. Der Abgleich in und an der vorhandenden wissenschaftlichen Information ist in jedem Falle sinnvoll und praktisch nicht zu umgehen (Abb. 3 ). Ob dazu immer eine Biblothek nötig ist oder auch der Klick ins Internet eine (seriöse) Alternative ist, soll hier zunächst unbeantwortet bleiben.

Es ist selbstverständlich, dass dieser Literaturabgleich im normalen wissenschaftlichen Betrieb ein kontinuierlicher Prozess ist und Teil der wissenschaftlichen Routine darstellt.

Ist aber der "Nachweis" erbracht, dass für die Fragestellung oder die Idee noch keine adäquate Lösung existiert, kann mit der Hypothesenbildung begonnen werden.

3.2 Hypothesenbildung


Abbildung 4: Hypothesenbildung und die Rolle der Bibliothek
Auch für eine angemessene Hypothesenbildung kann und wird im allgemeinen der Besuch der Bibliothek und die Konsultation der wichtigen oder relevanten Literatur (oder ganz allgemein entsprechender Informationen oder Daten) notwendig sein. In Abhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit und des Fachgebiets ist die mehr oder weniger intensive Nutzung der Bibliothek gerade bei der Hypothesenbildung wichtig. Dazu zählt auch der "Input" in Form scheinbar randständiger Literatur, von Bemerkungen, Informationen und Methodenfragen (Abb. 4 ). Hierfür ist nicht so sehr die fokussierte Suche nach konkreten Sachverhalten und Inhalten wichtig, sondern vielmehr die intuitive Nutzung eines möglichst breiten und "interessanten" Angebots der Bibliothek. Bernhard Fabian hat besonders an dieser Stelle recht, wenn er die Bedeutung der Sammlung einer Bibliothek hervorhebt.8

Ist die Hypothesenbildung abgeschlossen, kommt es zur Ausformulierung des Experimentes, zur Vorbereitung der statistischen Datenerhebung oder zur deduktiven Ableitung der Ergebnisse. Der Erkenntnisprozess in den Geisteswissenschaften erfordert eine noch intensivere Nutzung der Bibliothek und häufig auch die Nutzung historischer Buchbestände.9

3.3 Verifizierung, Falsifizierung


Abbildung 5: Verifizierung/Falsifizierung und die Rolle der Bibliothek
Dieser Schritt in der wissenschaftlichen Wertschöpfungskette erfordert immer Konsultation und Vergleich von Veröffentlichungen ähnlicher Experimente. Es werden nicht nur Inhalte abgeglichen, sondern auch Methoden überprüft, Materialien gesucht oder Kollegen kontaktiert (Abb. 5 ).

Die Bibliothek hilft hierbei in vielfältiger Weise: Angefangen bei den Suchmaschinen oder Indices für entsprechende Zeitschriftenbeiträge über Methodenhandbücher, Datenblätter, Vorschriften und Patenthinweise bis hin zur Auskunft über Personen oder Institutionen. Immer ist die Bibliothek Partner bei der Verifizierung der Hypothesen (lediglich die Durchführung und Interpretation des Experiments muss der Wissenschaftler noch selbst leisten).

3.4 Erkenntnisgewinn und Problemlösung


Abbildung 6: Erkenntnis und die Rolle der Bibliothek
Wenn das Experiment durchgeführt ist und brauchbare Ergebnisse entstanden sind, ist die Wertschöpfungskette der Wissenschaft noch nicht endgültig abgearbeitet. Da Wissenschaft nur noch in den seltensten Fällen (und dann ist sie schon pathologisch) der Befriedigung rein individuellen Erkenntnisstrebens dient, schließt sich der eigentlichen Erkenntnisgewinnung (oder der Lösung eines Problems) die Veröffentlichung der Ergebnisse an. Jetzt tritt der Wissenschaftler an die Öffentlichkeit und teilt entweder seinen Fachkollegen (der Scientific Community) oder einer breiteren Öffentlichkeit die Ergebnisse, deren Interpretation und die Konsequenzen mit (Abb. 6 ). Damit scheinen das Experiment und der Prozess der Erkenntnisgewinnung abgeschlossen und die Wertschöpfungskette beendet. Tatsächlich jedoch ist Wissenschaft ein kontinuierlicher Prozess, der durch die Rezeption der Ergebnisse und die Diskussion in der Fach- oder breiteren Öffentlichkeit fortgesetzt wird. Und wieder ist es die Bibliothek, die entscheidend dafür Sorge tragen muss, dass die Ergebnisse verbreitet, allen Interessierten zur Verfügung gestellt und langfristig erhalten werden10 (Abb. 7 ).


Abbildung 7: Veröffentlichung und die Rolle der Bibliothek
Die Initiative Information und Kommunikation der wissenschaftlichen Fachgesellschaften in Deutschland (kurz: IUK) hat in ihrer jüngsten Stellungnahme diese Funktion der Bibliotheken dezidiert herausgestellt: "Qualitativ hochwertige Informationsbereitstellung und -erschließung sind zentrale gesellschaftliche Aufgaben. Sie sind unverzichtbar zum Erhalt wissenschaftlicher Konkurrenzfähigkeit, zum Transfer wissenschaftlicher Fortschritte in den Wirtschaftsprozess, zur Unterstützung gesellschaftlicher Innovation und einer adäquaten Weiterentwicklung der Tätigkeit von Regierungen und Verwaltungen."11

Der entscheidende Schritt vom verschrobenen autistischen Privatgelehrten zum anerkannten Mitglied der wissenschaftlichen Community ist die "Veröffentlichung", also das "öffentlich machen" der eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse, der eingesetzten Methoden und der Interpretation und Nachprüfbarkeit der Ergebnisse in der Konfrontation mit den Ergebnissen und Meinungen anderer Wissenschaftler.

Dieses letzte Glied in der wissenschaftlichen Wertschöpfungskette ist wie kaum ein anderer Bereich der Wertschöpfungsaktivitäten in die Diskussion geraten. Das wissenschaftliche Publizieren als Kondensationspunkt wissenschaftlicher Tätigkeit und alle an diesem Prozess Beteiligten stehen zur Debatte.

4. Lesen und Gelesen werden - Publizieren in der Wissenschaft und die Position der Bibliothek

Der reine Erkenntnisgewinn ist noch nicht das Ende der wissenschaftlichen Wertschöpfung. Erst die Veröffentlichung und breite Verfügbarkeit der neuen Erkenntnisse machen aus der Erkenntnis des "Privatgelehrten" eine in der Fach-Community (oder einer breiteren Öffentlichkeit) diskutierte, evaluierte, (evtl. revidierte) und damit erst akzeptierte wissenschaftliche Erkenntnis. "Each endeavor will remain incomplete until its results have been communicated or reported."12 Aber nicht nur für die Diskussion und die Akzeptanz der Entdeckung oder für die Reputation des Wissenschaftlers ist die Veröffentlichung notwendig; Wissenschaftliche Arbeit ist zu wertvoll und zu teuer, um vergessen zu werden. In einer älteren Studie wird geschätzt, dass 10-20% aller wissenschaftlichen Forschungsarbeiten in den USA und in England nicht hätten durchgeführt werden brauchen, wenn man Informationen über analoge Arbeiten zur Verfügung gehabt hätte. Die entstandenen Verluste durch diese Doppelarbeit betrugen im Jahr 1960 in den USA 1,25 Milliarden Dollar, in Großbritannien 12 Millionen Pfund. In der UdSSR wurde in den 60er Jahren von 1000 angemeldeten Erfindungen nur ein Viertel als Neuerfindung anerkannt.13 Auch ein anderes Beispiel zeigt die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Kommunikation. Der russische Genetiker Lyssenko warb in den 30er Jahren in der Sowjetunion mit seiner phantastischen Vererbungstheorie, die es der UdSSR ermöglichen sollte, Pflanzen und Tiere für alle möglichen Bedingungen zu züchten. Durch die Schlüsselstellung Lyssenkos als Herausgeber des wichtigsten Genetik-Journals der SU gelang es ihm über Jahre, kritische Beiträge zu seiner Theorie abzulehnen. Er bescherte damit der gesamten russischen Genetik einen Rückstand von 25 Jahre auf die Weltentwicklung.14

Wenn Kommunikation also für den Wissenschaftler essentiell ist ("Effective communication and dissemination of scientific information is therefore crucial"15), dann muss das publizierte Material identifizier- und suchbar sein und archiviert werden. Dass Bibliotheken sich für diese Aufgaben seit Jahrtausenden bewährt haben steht außer Frage. In welcher Form sie das künftig tun werden und tun können, soll anschließend erläutert werden.

4.1 Electronic Only - for now or never? - Die historische Entwicklung

Der Einzug digitaler Medien in die wissenschaftliche Informationsversorgung Mitte der 80er Jahre hat eine Reihe revolutionärer Veränderungen mit sich gebracht. Digitale Informationen sind nicht mehr an Raum und Zeit gebunden. Sie sind jederzeit und überall abrufbar und nutzbar. Eine ganze Reihe nützlicher aber auch überflüssiger Zusatzfunktionen erlaubt einen gezielten und schnelleren Zugriff auf gewünschte Inhalte, als dies die entsprechenden Druckwerke je anbieten konnten. Die Weiterverarbeitung digitaler Daten, etwa in eigenen Referenzdatenbanken, ist ohne Medienbruch realisierbar.

Die Etablierung der elektronischen Datenverarbeitung hat schon sehr früh die Phantasie der Wissenschaft beflügelt. Die Möglichkeit, computergestützte Informationen zwischen Wissenschaftlern auszutauschen, nutzte man zunächst innerhalb der Natur- und der Technikwissenschaften. Herkömmliche Veröffentlichungstechniken bedurften mehrerer Arbeitsgänge, sie waren arbeitsintensiv, langsam und teuer. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis die elektronische Datenverarbeitung auch im Herstellungs-, Bearbeitungs- und Distributionsbereich für wissenschaftliche Informationen Einzug nehmen sollte. Die traditionelle Zusammenarbeit zwischen Autoren, Gutachtern und Verlagen sollte über kompatible Textverarbeitungssysteme gesteuert und über Computernetze vereinfacht werden. Bereits in den 70er Jahren gab es theoretische Modelle über die Anwendung derartiger Techniken und damit frühe Vorläufer.16

Das noch in den 70er Jahren als "zugegebenermaßen revolutionär" angesehene Konzept eines "rein elektronischen Veröffentlichungssystems"17 ist heute längst realisiert. Ziel dieses Konzeptes war die Generierung, Verarbeitung und Verbreitung der Informationen und der wissenschaftlichen Ergebnisse in elektronischer Form. Neu dabei war nicht nur die Art und Weise der Herstellung, die Vereinfachung des Herstellungsprozesses, das Absenken und die Verringerung der Kosten, sondern vor allem auch die Verkürzung der Zeitspanne zwischen der Ergebnisgewinnung und -verbreitung und dem Bereitstellen in der fachlichen und breiten Öffentlichkeit. Ob der Zeitfaktor wirklich eine bedeutende Rolle spielt, ist angesichts der Zeitspanne von durchschnittlich dreizehn Jahren, die es braucht, bis wissenschaftliche Ergebnisse in das gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen sind, von untergeordneter Relevanz. Sicherlich wird dieser Zeitaspekt häufig überschätzt.

"Do we overestimate the significance of speed? The limits of information consumption are set by human, not technological capacities."18

Dennoch ist der eigentliche wissenschaftliche Prozess der Erkenntnis- und Ergebnisgewinnung und deren Aufbereitung weniger vom elektronischen Publizieren betroffen, als dies zunächst aus Bibliothekssicht vermuten lässt. So ist es weniger der prinzipielle wissenschaftliche Prozess, der sich verändert hat, als vielmehr der technische Herstellungsvorgang der Ergebnisaufbereitung. "There will be no principal changes in the ways knowledge is created, quality controlled and utilized by researchers."19

Es ist die Art und Weise wie Wissenschaftler miteinander kommunizieren und die Aufbereitung und Nutzung der wissenschaftlichen Ergebnisse, die von der digitalen Revolution verändert werden. So sind die Konsequenzen der Digitalisierung denn auch mehr in einer neuen Kulturtechnik (Computer Literacy), einer sich verändernden Medienkompetenz und einer grundlegend veränderten Medienwahrnehmungs- und Rezeptionsstruktur des Lesers bzw. des jetzt so bezeichneten Nutzers zu sehen.20 Aus Nutzer- bzw. Lesersicht sind die Kennzeichen elektronischer Information schnell zusammengefasst. Die Informationen (insbesondere im STM-Bereich) sind einem schnellen Veralterungsprozess unterworfen, der Nutzwert von Angeboten erhöht sich durch die individualisierten Such- und Nutzungsprozessmöglichkeiten und der Informationswert steigt durch die Einbindung dynamischer Medien.

Für den Wissenschaftler ergibt sich durch die Einführung elektronischer Publikationen zwar keine generelle Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung aber dennoch eine Reihe von Veränderungsprozessen in Verbreitung und Auswertung der wissenschaftlichen Ergebnisse. So ist der Reviewprozess durch menschliche Faktoren determiniert und durch den Einsatz elektronischer Publikationsmöglichkeiten nur in einem marginalen Bereich optimierbar. Lediglich für die Herstellung des Druckmediums kann der Einsatz elektronischer Publikationsprozesse eine Beschleunigung von 1 bis 2 Wochen bedeuten. Die Kosten hingegen durch elektronisches Publizieren lassen sich durch den Wegfall der Druck-, Binde- und Versandkosten deutlich verringern, was sich jedoch nicht im Verkaufspreis elektronischer Zeitschriften niederschlägt. Aus wissenschaftlicher Sicht sind jedoch einige Risiken beim elektronischen Publizieren, etwa von elektronischen Zeitschriften, zu bedenken. Eines der nach wie vor wichtigsten Kriterien ist die Qualitätskontrolle einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die beim elektronischen Publizieren schnell an ihre Grenzen stößt. Wenn nur noch Geschwindigkeit und Performance entscheidende Parameter bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse sind, können sehr schnell Qualitätsverlust und Verlust der Genauigkeit der Ergebnisse die Folge sein. Von nach wie vor unschätzbarer Wichtigkeit ist die Rolle der Herausgeber und der Reviewer für eine qualitätsorientierte, wissenschaftliche Zeitschrift. "Wichtig ist hervorzuheben: Nicht die Gutachter entscheiden letztlich, ob der Beitrag angenommen oder abgelehnt wird bzw. wie er revidiert werden soll, sondern der Herausgeber."21

Eines der immer wieder angeführten Beispiele ist der Preprint-Server, ehemals im Los Alamos National Laboratory, für den Hochenergiebereich der Physik. Dieses System erlaubt es allen Wissenschaftlern, Beiträge ohne Qualitätskontrolle und ohne Review-System vorab elektronisch zu veröffentlichen. Fragen des Copyrights bleiben hier unbeantwortet und die hohe Geschwindigkeit der Verbreitung dieser Ergebnisse ist nur durch eine unkontrollierte und nicht-qualitätsgeprüfte Verbreitung machbar.22 Die jüngsten Entwicklungen dieses Preprint-Servers, dem Archetypus der Selbstverlagsaktivität schlechthin, zeigen, auf welch wackeligen Füßen solche Initiativen stehen können.23

Andere Preprint-Systeme im WWW setzten auf eine teilbegutachtete elektronische Veröffentlichung. Sie werden allerdings keineswegs als Ersatz für die Veröffentlichung im traditionellen Publikationsorgan angesehen, sondern lediglich als zusätzliche Möglichkeit bewertet.24

Trotz Elektronik scheint sich in den letzten 20 Jahren das Leseverhalten der Wissenschaftler nicht geändert zu haben. Die insbesondere in der Naturwissenschaft, Technik und Medizin (den s.g. STM-Bereichen) vorherrschende Veröffentlichung in Zeitschriften ist nahezu unverändert. Nach wie vor sind im STM-Bereich Zeitschriftenartikel, ob gedruckt oder elektronisch, die wichtigsten Informationsquellen der Wissenschaftler.

So ist zwar die Zahl der wissenschaftlichen Beiträge enorm gestiegen, gleichzeitig aber auch die Zahl der Wissenschaftler. Die Zahl der Beiträge pro Wissenschaftler ist somit recht konstant.25 Auch die Anzahl der Artikel, die von einzelnen noch gelesen werden, ist seit 20 Jahren nahezu unverändert. 85% der Entscheider in Wirtschaftsunternehmen lesen zur Entscheidungsunterstützung Fachzeitschriften.26

Dennoch gab es bereits in den 1960er und 1970er Jahren Wissenschafter, die eine Zeitschriftenkrise konstatierten und die traditionelle Herstellung von Journals als Papierverschwendung, als zu teuer und zu langsam kritisierten. 1978 wurde eine Schätzung veröffentlicht, wonach es noch 20 Jahre dauere, bis elektronische Zeitschriften wirklich akzeptiert würden. Im Jahre 2001 entstammen in den USA bereits (oder soll man besser sagen erst) 1/3 aller gelesenen wissenschaftlichen Informationen elektronischen Quellen.

Bereits in den 70er Jahren war schon einmal aus einer Zeitschriftenkrise ein Zeitschriftenkrieg geworden. In den USA hatte sich die Zahl der Fotokopien von wissenschaftlichen Beiträgen von 1970 bis heute von 40 Millionen Artikel auf 100 Millionen Fotokopien verzweieinhalbfacht. Die Verleger, die dies vorhergesehen hatten, bangten um ihre Einkünfte und gaben erst nach einem neuen Copyrightgesetz wieder Ruhe.

Auch heute glauben viele Verleger, dass Zugriff auf und die ungehinderten Distributionsmöglichkeiten von elektronischen Informationen eine Gefahr für die gesamte Verlagsbranche darstellen. Tatsächlich jedoch nehmen die Kosten für die dualistische Informationsversorgung für Bibliotheken zu und damit zumindest der Umsatz (und sicher auch der Gewinn) der Verleger. Gleichzeitig haben sich die Abonnementzahlen der Zeitschriftentitel nicht verringert. Lediglich die Zahl persönlicher Subskriptionen haben sich im Laufe der letzen 20 Jahre halbiert. Dafür liest heute ein Wissenschaftler an einer Universität im Schnitt dreimal mehr Artikel, die durch die Bibliothek zur Verfügung gestellt werden.

Dies ist tatsächlich kein Grund, aus der Zeitschriftenkrise erneut einen Zeitschriftenkrieg herbeizureden. So schreibt die FAZ unter dem Titel "Independence Day - Das Internet und der Zeitschriftenkrieg der Wissenschaftler"27, dass man einen Mehrwert der Verlage nicht erkennen könne und in den Preprint-Aktivitäten eine mögliche Lösung der Krise sehe. Zwei Dinge werden unterstellt: Erstens wird den Verlagen Gier und Faulheit unterstellt und zweitens seien Wissenschaftler innovationsfreudig und neugierig. Aus dieser Kombination werde schon bald eine Lösung des Zeitschriftenkrieges im Sinne von Selbstverlagsaktivitäten entstehen.

Es macht wenig Sinn, dass Wissenschaftler dafür bezahlt werden sollen, Veröffentlichungsmechanismen neu zu erfinden und bisher Bewährtes zu verlassen. Solange Preprint-Initiativen noch den Verdacht des Heimwerkertums nähren und an Do-it-yourself-Seminare des Baumarkts um die Ecke erinnern, solange renommierte Nationallaboratorien von heute auf morgen Preprintserver abschalten und Preprintserver ganzer Wissenschaftsdisziplinen auf dem Good-Will einzelner Personen basieren, wird aus dieser Richtung keine echte professionelle Antwort und keine echte Alternative zu den Verlagspublikationen zu erwarten sein. Arbeits- und Kompetenzteilung haben durchaus auch hier ihren Sinn.

4.2 Leitmedium Buch oder Leitmedium Internet? - Ein leidiges Thema

Jahrhunderte hat das gedruckte Buch die Lesekultur bestimmt und alle Bereiche wurden im Sinne dieses Leitmediums verschriftet.28 Trotz elektronisch-digitaler Ressourcen sind weite Teile der Wissenschaft noch immer auf das Leitmedium "Buch" fixiert, das Gutenberg mit der Erfindung des Buchdrucks als das alleinige Kommunikationsmittel initiiert hat. 1630 schrieb Valentin Ickelsamer über die Möglichkeiten der Buchdruckkunst " durch die man alles in der Welt erfahren, wissen und ewig merken und behalten kann, mit der man anderen, wie fern diese auch von uns sind, alles Wissen geben kann, ohne persönlich bei ihnen zu sein und ohne es ihnen mündlich anzuzeigen."29 Ein einziges Medium wurde hier zum Allheilmittel erklärt, nicht zuletzt wegen fehlender Alternativen. Wir stehen heute in der gleichen Gefahr, diese Einseitigkeit trotz vieler Alternativen zu wiederholen. Wer nur noch elektronische Informationsversorgung kennt und zulässt, verschließt sich und anderen die ganze Breite der Informationsvielfalt. Wenn "electronic only" zur alles selig machenden Technik erkoren wird, stehen wir erneut in der Gefahr, die Vielfalt gegen die Einfalt einzutauschen und die Gleichschaltung der Köpfe und des Denkens zu riskieren. Die Bibliotheken laufen Gefahr, nur noch von standardisierten Schnittstellen zu sprechen und anderes gar nicht mehr zuzulassen. Die Unterdrückung alternativer Konzepte von Informationsversorgung in Wissenschaft und Forschung und das Primat der elektronischen Quellen verschließen Augen und Ohren vor der Vielfalt der Quellen und Informationen, vor der Vielfalt des möglichen Zugangs, aber auch vor der Vielfalt des möglichen Outputs.

Dynamische Dokumente im Internet konterkarieren die Gefahr der Einseitigkeit der Druckmedien durch das Angebot der digitalen Beliebigkeit und permanenten Veränderbarkeit von Informationen und Konstitutionen der wissenschaftlichen Erfahrung.

Die entscheidende Frage für die Online- bzw. e-publishing-Strategie ist daher, ob elektronische Medien, ob die Aktivitäten und Mechanismen des e-publishing supplementär zum Informations- und Dienstleistungsangebot von Bibliotheken zu betrachten, additiv zu verstehen oder gar substituierend sind, um, wie am Beispiel der e-journals zu sehen, traditionelle Formen durch elektronische zu ersetzen. Hand in Hand mit der Wissenschaft müssen Bibliotheken das eine tun und dürfen das andere nicht lassen.

Vielfach wird die Befürchtung geäußert, Bibliotheken könnten durch die "Enduser-Orientiertheit" der elektronischen Produkte übergangen und damit überflüssig werden. Kürzlich wurde sogar schon zu ihrer Beerdigung eingeladen.30

"Publishers, database producer, subscription agents and other intermediates are already marketing their own integrated electronic libraries - many of them targeted and tailored towards the end user."31

Gerade jedoch die Unabhängigkeit der Bibliotheken von speziellen Produkten - sofern sie diese bewahren - prädestiniert die Bibliothek als Plattform für markenunabhängige Informationsprodukte und -systeme.

Wir können nicht wissen, ob durch den Einsatz elektronischer Medien in Wissenschaft und Bibliothek die von McLuhan vorhergesehene "Einlinearität der Schrift und die Verengung in Fachdisziplinen" wieder aufbrechen wird32 und als "vielköpfige Hydra" in einem Ideen-Netzwerk die wissenschaftliche Kommunikation verändert33 oder ob electronic publishing nichts anderes bedeutet als die Unmöglichkeit einer sichtenden Auswahl und ein Mangel an dauerhafter Bereitstellung (Klostermann34) oder zu einer "Ratlosigkeit höheren Niveaus" (Wawra) beitragen wird.35

Die Tatsache allein, dass elektronische Medien und elektronisches Publizieren bereits Realität sind, muss die Bibliotheken, Forschung und Lehre zu einer sinnvollen, intelligenten und zukunftsorientierten Entscheidung über die Integration der elektronischen Medien in das Gesamtkonzept wissenschaftlichen Publizierens zwingen.36

4.3 Die Bibliothek als Verlag von elektronischen Produkten

Die Neugestaltung der Informationskette muss nicht ohne Bibliotheken stattfinden. Durch die veränderten Rahmenbedingungen müssen Hochschulen und wissenschaftliche Einrichtungen mitsamt ihren Bibliotheken ein starkes Interesse haben, elektronisches Publizieren zu fördern.37 Es gibt bereits ermutigende und erfolgversprechende Beispiele aus der bibliothekarischen Praxis für die Übernahme von Verlagstätigkeiten und die Etablierung eines umfassenden e-publishing-Systems durch Hochschulbibliotheken für Hochschulschriften und andere Beiträge. Die Bibliothek als Verlag kann beim e-publishing vielfältige Aufgaben wahrnehmen und ihr Dienstleistungsspektrum entsprechend erweitern. Der Aufwand des e-publishing oder WEB-publishing ist für eine Bibliothek viel geringer als die technische Herstellung von Printprodukten. So ist durchaus denkbar, dass eine Bibliothek als Verlag einer wissenschaftlichen Einrichtung redaktionelle und technische Beratung für die Herstellung und Vorbereitung der Manuskripte durchführt und das Technikhandling übernimmt. In diesem Zusammenhang wären sowohl die Herstellung von CD-ROM-Produkten als auch die Integration der Produkte in das WEB, ebenso wie deren Speicherung und Distribution, denkbar.

Neben der redaktionellen und technischen Beratung bei der Entwicklung und Herstellung eines elektronischen Produktes, der Einstellung im WEB oder der Produktion als CD-ROM, können auch alle weiteren Aktivitäten eines kommerziellen Verlages wie Marketing und Promotion von Bibliotheken übernommen werden. Da dies im wesentlichen bei elektronischen Produkten des e-publishing im WEB laufen kann, entsteht nur ein relativ bescheidener finanzieller Aufwand.. Elektronische Produkte aus dem WEB-publishing-Geschäft verursachen zudem praktisch keine Lagerhaltungskosten. Die Distribution auf Anforderung ist einfach und Lösungen für e-commerce sind weit über das Experimentierstadium hinaus.38 Auch das Printing-on-Demand als Zwischenstufe zwischen traditioneller Druckherstellung und der ausschließlich elektronischen Zurverfügungstellung im WEB ist für Bibliotheken, die als Verlag von elektronischen Produkten fungieren, ein innovativer Service.

"The combined one-stop-shop-service book in time, significantly reduces publisher manufacturing and inventory costs, while also opening up new online marketing opportunities."39

Wenn die Bibliothek als Verlag im Geschäft des e-publishing tätig ist, hat das für die Wissenschaftler als Kunden aber auch für die wissenschaftliche Einrichtung selbst unschätzbare Vorteile. Die Bibliotheken befinden sich vor Ort, meist in zentraler Lage des wissenschaftlichen Geschehens und können mit dazu beitragen, die Erträge von Forschung und Lehre angemessen zu vermarkten. Sie bringen sich stärker als bisher in den wissenschaftlichen Arbeits- und Erkenntnisprozess ein. Genau dies fordert die IUK-Initiative im Entwurf ihres jüngsten Positionspapiers zu digitalen Bibliotheken, das das verstärkte Engagement von Informationsprofis im Wissenschaftsprozess selbst fordert. "Informationsbeauftragte sollten so für eine vertikale und horizontale Integration der Informationsbelange an den Hochschulen sorgen.40

5. Zusammenfassung

Wissenschaftliche Bibliotheken dienen als Speicher der Erkenntnisse von Wissenschaft und Forschung. Somit war und ist Bibliothek stets Multiplikator für die wissenschaftlichen Erträge und stellt gleichzeitig die wissenschaftlichen Ergebnisse einer breiten Allgemeinheit vor und zur Verfügung. Die Bibliothek ist damit Transformator reiner Wissenschaft in allgemein verständliche Information. Sie gibt einen geeigneten Rahmen ab für den Wissenstransfer aus der Spezialdisziplin in die Öffentlichkeit. Die Bibliothek war und ist aber stets auch Schnittstelle der Wissenschaft zum Wissenschaftler. Sie ist ein Ort, der Inter- und Transdisziplinarität und damit Innovations- und Intuitionsfaktor für Wissenschaft und Forschung.

Die Bibliothek spielt in der Wertschöpfungskette der Wissenschaft durch ihre sekundäre Wertschöpfungsaktivität eine wichtige und zentrale Rolle. Sie muss hierzu ihre Supporting-Aufgabe für Wissenschaft und Forschung annehmen und ernst nehmen. In der veränderten Medienwelt darf sie sich nicht zum ideologischen Fürsprecher eines einzigen Informationsmediums machen lassen, sondern muss die Wissenschaft und die verschiedensten Formen des wissenschaftlichen Publizierens in ihrer Vielgestaltigkeit annehmen und eine eben solche vielfältige, multimediale Informationsunterstützung gewährleisten.

Die Konzentration auf ein einziges Leitmedium ist weder von der Wissenschaft gewünscht noch zielführend für eine optimale Literaturversorgung. Diese Vielfalt zu organisieren und so zu strukturieren, dass der Wissenschaftler nicht zum Informationsanalphabeten wird und im Information-Overload versinkt, ist die vornehmste Aufgabe wissenschaftlicher Bibliotheken.


Zum Autor

Dr. Rafael Ball ist Leiter der Zentralbibliothek des

Forschungszentrum Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de


Anmerkungen

1. Garvy, William D.: Communication: The Essence of Science, facilitating information exchange among librarians, scientists, engineers and students. Pergamon Press: Oxford N.Y., 1979, S. 1/2

2. Kreibisch, R.: Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei bis zur High-Tech-Revolution. Suhrkamp, Frankfurt 1986, 2. Aufl., S. 11

3. Willke, H.: Systemisches Wissensmanagement, UTB, Stuttgart 2001

4. Chalmers, A. F.: Wege der Wissenschaft. Springer, 1999

5. Leinfellner, W.: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. BI Mannheim, 1965, S.96

6. "Eindeutig scheint mir die Stellungnahme über die Bewährtheit der Theorien, die bekanntes ordnen und zu einer größeren Zahl von quantitativ bestätigten Folgerungen führten. Aber immer mussten wir zufrieden sein, wenn wenigstens ein Teil der Konsequenzen sich bewährte; denn noch auf keinem Gebiet der Physik hat sich bisher eine Theorie finden lassen, die nicht durch eine folgende als zu eng gedacht sich herausstellte, und doch hat jede ihren Zweck als Sprosse einer Leiter erfüllt. Wir möchten fast sagen, dass eine Theorie, welche nicht den Keim der nächsten bald erkennen lässt, unfruchtbar ist..." Hartmann, M. Gerlach, W.: Naturwissenschaftliche Erkenntnis und ihre Methoden. Springer, Berlin 1937

7. Dobrow, G. M.: Wissenschaftswissenschaft. Akademie-Verlag, Berlin 1970, S. 31

8. Fabian, Bernhard: Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung. Göttingen, 1983

9. Die geisteswissenschaftliche Position sieht deutlich anders aus: "Dem wissenschaftlichen Verstand , der mit großem Erfolg immer neue Rätsel löst, ist es weitgehend immer noch ein Rätsel, wie er zu seinen Einsichten kommt. Natürlich gibt es blitzblanke Methoden und eingefahrene Forschungswege, und doch erklären auch diese meist nicht, woher der wissenschaftliche Einfall kommt , wie man sein Werden befördern könnte und warum er nur allzuoft ausbleibt.....Es ist vor allem das Moment des Unvorhersehbaren, das die wissenschaftliche Arbeit - und hier keineswegs nur die Arbeit des Geisteswissenschaftlers - bestimmt und die Forschung vorantreibt...Der Geist der Forschung schütze uns vor Techniken, die dieses Moment zugunsten von in wuchernden Informationsnetzen stets verfügbarer vollständiger Information ausmerzen würden". Mittelstraß, J.: Der wissenschaftliche Verstand und seine Arbeits- und Informationsformen. In: Die unendliche Bibliothek. Harrasowitz Wiesbaden, 1996, S. 25-29.

10. Ebel, H. F., Bliefert, C., Russey, W.: The Art of Scientific Writing. VCH, Weinheim, 1987, S. 58

11. Digitale Bibliotheken: Rahmenbedingungen, Perspektiven, Anforderungen und Empfehlungen zur Neuordnung von Strukturen der Information und Kommunikation in den Wissenschaften. Positionspapier der Initiative Information und Kommunikation der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften in Deutschland, Entwurf vom 09/09/2001, http://www.iuk-initiative.org/documents/digibib09092001/

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28. Giesecke, Michael: Die Maus und der Griff ins Regal. In: FAZ, 7.7.2001

29. Zitiert nach: Giesecke, Michael: Die Maus und der Griff ins Regal, a.a.O.

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36. Einen umfassenden Einblick über die von elektronischen Zeitschriften betroffenen Bereiche und Prozesse in Bibliotheken geben: Buckley, C., Burnight, M., Preudergast, A. et al. In: "Electronic Publishing of Scholarly Journals: A Bibliographic Essay of Current Issues. http://www.library.uscb.edu/istl/99-spring/article4.html

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40. Digitale Bibliotheken: Rahmenbedingungen, Perspektiven, Anforderungen und Empfehlungen zur Neuordnung von Strukturen der Information und Kommunikation in den Wissenschaften. Positionspapier der Initiative Information und Kommunikation der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften in Deutschland, Entwurf vom 09/09/2001, http://www.iuk-initiative.org/documents/digibib09092001/