Bibliometrische Analysen als Instrument
des Bestandsmanagements in Bibliotheken

von Mirjana Stein-Arsić, Elmar Bickar, Beate Bucher, Rafael Ball


Abstracts

1. Einleitung
2. Methode

3. Diskussion

4. Fazit


1. Einleitung

Seit vielen Jahren beklagen Bibliotheken in Hochschulen und außeruniversitären Forschungs- und Bildungseinrichtungen die sogenannte Zeitschriftenkrise. Gemeint ist der weit über der gesamtvolkswirtschaftlichen Teuerungsrate liegende Preisanstieg der Abonnements von wissenschaftlichen Zeitschriften. Hier ragen wieder besonders die Zeitschriften des STM-Bereichs (Science, Technology, Medicine) heraus. Die Preisanstiegsraten lagen teilweise bei mehr als 100% innerhalb von drei Jahren1. Zusammen mit den seit Jahren stagnierenden (und netto sogar abnehmenden) Erwerbungsbudgets der Bibliotheken2, hat dies zu teilweise massenhaften Abbestellungen von Zeitschriftenabonnements, vor allem der höherpreisigen Verlage, geführt3. In der Folge sinken Qualität und Quantität der Literaturversorgung in Wissenschaft, Forschung und Lehre. Dem Bestandsmanagement kommt daher eine zunehmend wichtigere Rolle zu. Die Auswahl der Kriterien für die Beschaffung wissenschaftlicher Zeitschriften kann sich daher nicht mehr ausschließlich an einzelnen Kundenwünschen und dem antizipierten Bedarf in Wissenschaft und Forschung orientieren, sondern muss die Einhaltung von engen Ressourcengrenzen ebenso beachten, wie Alternativversorgungen (ähnliche, aber preiswertere Zeitschriftentitel, Document Delivery als Ersatz für zurückgefahrene Holdings oder gar die völlige Neuorientierung der wissenschaftlichen Kommunikation, etwa die Open Access Initiativen4) sowie die tatsächliche Nutzung der Literatur5.

Die Herausarbeitung von objektiven Kriterien für die Bewertung für das Bestandsmanagement sind unter den aktuellen Rahmenbedingungen wichtiger denn je.

Neben direkten Kundenbefragungen werden zunehmend Ergebnisse von bibliometrischen Analysen für Bestandsentscheidungen eingesetzt.6

Im Forschungszentrum Jülich wurde eine besondere Art der bibliometrischen Analyse ausgearbeitet. Die Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich gibt nahezu sämtliche Diplom- und Doktorarbeiten in der Schriftenreihe "Berichte des Forschungszentrums Jülich" (ISSN: 0944-2952) heraus. Pro Jahr erscheinen rund 100 Berichte aus allen am FZJ vertretenen Disziplinen.

In dieser Studie werden alle Zitate von 20 ausgewählten Arbeiten analysiert und die zitierten Zeitschriftenbeiträge untersucht. Es wird erfasst, ob die zitierten Zeitschriften im Bestand der Zentralbibliothek vorhanden sind oder nicht.

Die überraschenden Ergebnisse werden im vorliegenden Beitrag diskutiert.

2. Methode

Ziel der Untersuchung war die Ermittlung von Zahlen zur Verfügbarkeit der in diesen Berichten zitierten Literatur. Die Untersuchung sollte die Frage beantworten, zu welchem Prozentsatz Literaturbestellungen unserer Kunden aus eigenen bzw. fremden Beständen erledigt werden können. Dabei liefern hohe Erledigungsquoten von Kundenwünschen aus eigenen Beständen wichtige Hinweise für richtige Erwerbungsentscheidungen und weisen auf eine nahezu optimale Literaturversorgungssituation hin. Untersuchungsobjekte waren die Literaturverzeichnisse von je zehn Dissertationen der zwei (von insgesamt fünf) FZJ-Forschungsschwerpunkte Lebenswissenschaften und Materialforschung.

Abbildung 1: Verteilung der 2798 Zitate auf 20 Dissertationen

Abbildung 1: zeigt die Verteilung der insgesamt 2798 Literaturzitate auf die 20 ausgewerteten Dissertationen (Durchschnitt: 140 Zitate). In der Einzelbetrachtung liegt die Zahl der Zitate zwischen einem Maximum von 362 und einem Minimum von 67 Zitaten.

Abbildung 2a: Verteilung aller Zitate nach
Literaturgattungen (absolute Zahlen)
In einem ersten Schritt wurde bei alfabetischer oder kapitelweiser Ordnung der Literaturzitate die Gesamtanzahl der Zitate ermittelt. Danach wurde eine getrennte Auswertung nach Literaturgattungen vorgenommen, d. h. die Zitate wurden als Zeitschriftenaufsatz oder andere Literaturquelle (z. B.: Monografie, Dissertation, Bericht, Konferenzbeitrag...) definiert und nachfolgend gezählt.

Abbildung 2b: prozentuale Verteilung aller Zitate
nach Literaturgattungen

Die getrennte Zählung der Zitate nach Literaturgattungen (2323 Aufsätze und 475 andere Quellen) ergab für beide Forschungsschwerpunkte, wie die Abbildungen 2a und 2b zeigen, ein deutliches Übergewicht für Zitate von Zeitschriftenaufsätzen (83 % zu 17 %). Ein daraus abgeleitetes Auswerten der Verfügbarkeit nur der Zeitschriftenaufsatzzitate und ein Verzicht auf die Zitate aus anderen Literatur-gattungen erscheint sinnvoll und ausreichend, um weitere Schlußfolgerungen zum Bestandsmangement ziehen zu können.

Abbildung 3 zeigt die Zitatverteilung nach Literaturgattungen innerhalb der beiden Forschungsschwerpunkte mit einer deutlich höheren Anzahl an Zeitschriftenzitaten für die Dissertationen aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, umgekehrt gilt dies für die Zitierhäufigkeit bei anderen Literaturgattungen für die Materialwissenschaften.

Abbildung 3: Zitatverteilung nach Literaturgattungen und Forschungsschwerpunkten

Aus diesem Ergebnis lässt sich die Vermutung ableiten, dass mögliche Abbestellungen von Zeitschriftenabonnements die Literaturversorgungssituation der Doktoranden lebenswissenschaftlicher Fächer stärker negativ beeinträchtigen würde als dies für die Materialwissenschaften zuträfe.

In einer weitergehenden Analyse wurden die Zeitschriftenaufsatzzitate am Bibliothekskatalog auf Verfügbarkeit geprüft und über das Erscheinungsjahr vier Zeitsegmenten zugeordnet (bis 1974, 1975 bis 1984, 1985 bis 1994 bzw. 1995 und jünger), die einen Vergleich der Zitierhäufigkeit älterer zu aktueller Literatur ermöglicht. Für alle Aspekte wurden Zahlen ermittelt.

Damit können nun Aussagen über die Verfügbarkeitsquote und die erscheinungsjahr-bezogene Verteilung eigener bzw. fernleihrelevanter Bestände, aber auch über die Zitierhäufigkeitsquoten von aktueller und älterer Literatur in der Gesamt- wie auch in der Einzelbetrachtung der beiden Forschungsschwerpunkte vorgenommen werden.

3. Diskussion

Abbildung 4: Verteilung der Zeitschriftenaufsatzzitate
nach Verfügbarkeit

Bezogen auf Bestandsmanagementfragen bedeutet dies, dass die bei unseren Kunden nachgefragten Zeitschriften zu einem sehr hohen Anteil (93 %) in der Zentralbibliothek oder den Institutsbibliotheken der Forschungszentrum Jülich GmbH als Papierausgabe oder in elektronischer Form zur Verfügung stehen. Die daraus abzuleitende Literaturversorgungssituation für die im FZJ tätigen Wissenschaftler, die zur Fertigstellung ihrer Dissertation verstärkt Literatur benötigen, kann durchaus als optimal angesehen werden.

Wie Abbildung 4 zeigt, konnten 93 % der zitierten Zeitschriftenaufsatzliteratur aus vor Ort verfügbaren Beständen ohne Zeitverzögerung genutzt werden. Nur 7 % der Kundenwünsche mussten über Fernleihe bzw. Dokumentlieferdienste besorgt werden.

Abbildung 5: Verteilung der Kundenwünsche auf eigene und fremden Bestände

Abbildung 6a: Verteilung der ZS-Aufsatzliteratur nach eigenen und fremden Beständen für den Forschungsschwerpunkt Lebenswissenschaft

Abbildung 6b: Verteilung der ZS-Aufsatzliteratur nach eigenen und fremden Beständen für den Forschungsschwerpunkt Materialwissenschaft

Aus Abbildung 5 und den Abbildungen 6a und 6b lässt sich im Vergleich der Lebenswissenschaften mit den Materialwissenschaften ein leicht erhöhter Bedarf an fernleihrelevanter Literatur (11 % im Vergleich zu 1 %) ermitteln, der sich möglicherweise über für die Lebenswissenschaften festgestellte, verstärkte Zitierhäufigkeit der Zeitschriftenaufsatzliteratur erklären lässt.

Abbildung 7 zeigt in einer Gesamtbetrachtung die Verteilung der Zeitschriftenaufsatzzitate auf die verschiedenen Zeitsegmente (bis 1974, 1975 bis 1984, 1985 bis 1994 bzw. 1995 und später) für beide Forschungsschwerpunkte und liefert einen deutlichen Beleg für den in der Literatur beschriebenen Effekt der "Halbwertzeit" wissenschaftlicher Publikationen, wonach das Interesse an Publikationen speziell aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich mit steigendem Alter deutlich abnimmt.8 Gleichzeitig zeigen unsere Auswertungen auch, dass eine beachtliche Anzahl älterer Zeitschriftenaufsätze als "grundlegende Arbeiten" in Dissertationen zitiert werden.

Abbildung 7: Verteilung der Literaturzitate aus ZB-Zeitschriftenbeständen nach Erscheinungsjahren

Abbildung 8a: Verteilung der Zitate auf ZB- Zeitschriftenbestände nach Erscheinungsjahren für den Forschungsschwerpunkt Lebenswissenschaften

Abbildung 8b: Verteilung der Zitate auf ZB- Zeitschriftenbestände nach Erscheinungsjahren für den Forschungsschwerpunkt Materialwissenschaften

Eine auf die Betrachtung des einzelnen Forschungsschwerpunktes gerichtete Analyse, wie sie in den Abbildungen 8a für die Lebenswissenschaften und 8b für die Materialwissenschaften dargestellt ist, zeigt teilweise recht deutliche Unterschiede für die Zitierhäufigkeit aktueller bzw. älterer Literatur.

Auf das Zeitsegment Literatur ab 1995 entfallen für die lebenswissenschaftlichen Forschungsbereiche fast die Hälfte aller Zitate (48 % Leben, 39 % Materie). Am häufigsten wird im Bereich Materialwissenschaften Literatur aus den Jahren 1985 bis 1994 (Zeitsegment 2) mit 40 % zitiert. Bemerkenswert ist für beide Forschungsbereiche, dass auf das Zeitsegement 4 (alte Literatur bis 1974) doch noch erstaunliche 7 % der Zitate entfallen. Es handelt sich dabei in der Mehrzahl der Fälle um in diesen Forschungsbereichen grundlegende Arbeiten, deren Ergebnisse die Basis aller nachfolgenden Forschungsarbeiten bilden.

4. Fazit

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung ermöglichen eine retrospektive Beurteilung der Zeitschriftenbestände einer wissenschaftlichen Einrichtung.

Vergleiche zwischen der Literaturnutzung in verschiedenen Fachgebieten und dem Vorhandensein von Beständen ermöglichen, den Sammelschwerpunkt der Bibliothek zu bestimmen (oder falls erforderlich zu verschieben) und machen Kern- und Randzonenbereiche der Sammlung sichtbar.

Das unterschiedliche Nutzungsverhalten (insbesondere von älterer Literatur) in den untersuchten Disziplinen macht die Bedeutung älterer Bestände für die aktuelle Forschung transparent. Dies ist eine wertvolle Hilfe, etwa für die Entscheidung über die Beschaffung von digitalisierten Archivbeständen.

In künftigen Untersuchungen sollen weitere Disziplinen erfasst und analysiert werden. Zudem ist geplant, auch die aktuellen Veröffentlichungen (insbesondere Zeitschriftenbeiträge) der Wissenschaftler im FZJ in dieser Weise auszuwerten.

Eine weitere Untersuchung wird die Downloadraten von elektronischen Zeitschriften in ein Verhältnis der Zitierraten setzen. Wir erwarten uns davon Aussagen über die Relevanz der abonnierten e-journals.


Literatur

Bibliometric analysis in science and research: applications, benefits and limitations. Proceedings of the 2nd conference of the Central Library, November 5-7, 2003, Jülich, Germany. Jülich: Forschungszentrum Jülich, 2003. 242 p. (Schriften des Forschungszentrums Jülich. Reihe Bibliothek/Library ; 11)

Butler, Declan: The writing is on the web for science journals in print. In: Nature 1999, 397, S. 105 <http://www.arl.org/stats/arlstat/graphs/2000t2.html>

Griebel, Ralf, Tscharnatke, Ulrike: Etatsituation der wissenschaftlichen Bibliotheken 1997/87. In: ZFBB 1998, 45, 6, S. 603-631

Kirchgäßner, Adalbert : 13 Jahre Zeitschriftenabbestellung an der Universität Konstanz,

http://www.ub.uni-konstanz.de/v13/volltexte/2003/1036//pdf/Stgt%20200503-bunt.pdf

Ohly, H. Peter: Die Bibliometrie ist tot - es lebe die Bibliometrie. In: B.I.T.online 2003, 6, S. 261-262

Reinhardt, Werner: Zeitschriftenpreise 1999. - Abschlussbericht. In: Bibliotheksdienst 2000, 34, S. 787 - 790

Schümmer, Volker: Nutzungsanalyse von mathematisch-naturwissenschaftlichen Print-Zeitschriften an der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. In: Bibliotheksdienst 1999, 33, S. 1475-1493

Tappenbeck, Inka: Zeitschriften-Nutzungsanalysen als Instrument des Bestandsmanagements an wissenschaftlichen Bibliotheken. In: Bibliothek 2001, 25, S. 317-339

Umstätter, Walther, Rehm, Margarete, Dorogi, Zsuzsánna: Die Halbwertszeit in der naturwissenschaftlichen Literatur. In: Nachrichten für Dokumentation 1982, 33, S. 50-52


Zu den Autoren

Dr. Rafael Ball ist Leiter der Zentralbibliothek des

Forschungszentrum Jülich GmbH
D-52425 Jülich
E-Mail: r.ball@fz-juelich.de

Dr. Mirjana
Stein-Arsić

ist ehemalige Mitarbeiterin der Zentralbibliothek, Abteilung Benutzerservice,

Elmar Bickar
ist Mitarbeiter
der Zentralbibliothek, Abteilung Betriebsservice,

Beate Bucher
ist Mitarbeiterin
der Zentralbibliothek, Abteilung Benutzerservice,

des Forschungszentrums Jülich
des Forschungszentrums Jülich
des Forschungszentrums Jülich


Anmerkungen

1. "...prices in all fields are seen to have increased since 1970 at a rate significantly greater than inflation." (Mellon Report on University Libraries & Scholarly Communication. ARL 1992)

"Periodicals are the primary cause of the rapid rise in the cost of library services in the academic and industrial sectors over the last 10-15 years." Gomersall, British Library, in Serials, 1991)

Butler 1999

2. Reinhardt 2000; Griebel & Tscharnatke 1998

3. Die neueste Meldung kommt von der Cornell University: "In 2003, we were able to maintain our subscriptions to Elsevier journals, only because we received one-time assistance from the University Librarian. The primary purpose of this 2003 one-time funding was to buy us some time, so that we would be able to explain these issues to Library users, and prepare for the possibility that we would need to cancel a significant number of Elsevier journals for 2004 (...) We are therefore planning to cancel several hundred Elsevier journals for 2004. The decisions on cancellations will be made on the basis of faculty input, as well as several years of statistical information on individual journal use. As will be clear from the remarks above, we have been preparing for this cancellation, while hoping to avoid it, for more than a year - so we do feel we know at this point which journals to cancel that will have the least impact on research and instruction at Cornell". http://www.library.cornell.edu/scholarlycomm/elsevier.html

4. Vgl. Berlin Declaration der "Allianz" zu Open Access, http://www.mpg.de/pdf/openaccess/BerlinDeclaration_en.pdf

5. Kirchgäßner 2003

6. Bibliometric analysis in science and research. Jülich 2003; Ohly 2003; Tappenbeck 2001

7. Die Methode wurde von Dr. Mirjana Stein-Arsić, ZB des FZJ, entwickelt

8. z. B.: Umstätter, Rehm & Dorogi 1982; Schümmer 1999