7. Dezember 2024

– 26. Mai 2015 –

„Alles wird Cloud. Nur noch Bildschirm und Browser...“

...sagt OCLC-Manager Eric van Lubeek im Interview mit b.i.t.online KongressNews zum 104. Bibliothekartag in Nürnberg

Alle Fotos: M. Fischer
Eric van Lubeek

In den USA, in England und in den Niederlanden beobachtet er zudem einen starken Trend zu ‚shared print‘, eine national oder regional abgestimmte Eingrenzung des Bestandes gedruckter Materialien pro Bibliothek mit einfachen Austauschmöglichkeiten. Eine Verschiebung von Sammlungen zu Services finde statt, erklärt der studierte Bibliothekar mit Master in Betriebswirtschaftslehre. Bibliotheksräume würden in Studierlandschaften und Bastelräume umgewidmet, sogenannte Makerspaces und Fab Labs, die als Begriffe noch in keinem Wörterbuch stehen. Bibliotheken hätten Schwierigkeiten, ihre Bibliotheksinfrastruktur an die Internetinfrastruktur anzupassen, während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei ihrer Lehre und Forschung schon lange im Internet arbeiteten. In diesem Umbruch, so van Lubeek, laufen Bibliotheken „große Gefahr, dass sie vergessen werden; dass weder ihre Kunden, noch die Entscheidungsgremien in den Universitäten und bei den öffentlichen Trägern verstehen, welche Rolle Bibliotheken in der modernen Informationsversorgung erfüllen.“

Eric van Lubeek1, der uns diese Informationen und Einschätzungen gegeben hat, ist Vizepräsident von OCLC (Online Computer Library Center) für die Region Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) sowie für den Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsraum (APAC).

Die Bibliotheksorganisation betreibt mit dem OCLC WorldCat® den größten Bibliothekskatalog der Welt. Zur Produktpalette gehören auch die eingeführten Bibliotheksinformations- und -management-Systeme (BMS/LIS) SISIS-SunRise™, LBS™ und BIBLIOTHECAplus™. OCLC WorldShare® ergänzt nun als Cloud-Service mit Anwendungen für alle bibliothekarischen Arbeitsgänge das Portfolio. WorldShare wird zur Zeit weltweit ausgerollt. Verschiedene Länder sind dabei schon weiter als andere. In den USA war WorldShare 2010 das erste installierte Cloudsystem für Bibliotheken. In Holland wird gerade die nationale Infrastruktur darauf umgestellt und in Deutschland befasst sich die Fachwelt bereits seit einigen Jahren mit der Diskussion der vielen Aspekte einer Einführung.

Herr van Lubeek, Sie stellen die These auf, alles wird Cloud und es gibt kein Zurück. Was passiert mit den eingeführten BMS/LIS, die OCLC im Laufe der Jahre akquiriert hat. Haben Sie vor, die Systeme auslaufen zu lassen?

Eric van Lubeek: Im Moment betreiben wir alle Systeme sehr aktiv. Wir entwickeln SISIS-SunRise und LBS für den akademischen Markt weiter und wir sind sehr aktiv mit BIBLIOTHECAplus für die öffentlichen Bibliotheken. Gleichzeitig starten gerade in Deutschland die ersten Piloten, um LBS- und SISIS-SunRise Bibliotheken in WorldShare zu übertragen.

Sie migrieren die Systeme?

Eric van Lubeek: Ja, wir migrieren sie. Wir bieten jeder SISIS-SunRise und jeder LBS-Bibliothek an, nach WorldShare zu migrieren, wenn es für sie von Vorteil sein wird. Das jetzige monolithische System wird ersetzt durch ein Set von Services. Alles, und das ist der große Unterschied, läuft nur noch cloudbasiert und hat damit Zugriff auf weitaus mehr Daten und Dienste als je zuvor. In der Bibliothek, die sich dafür entscheidet, verschwindet das SISIS SunRise-System, auch die Systemhardware. Da sind nur noch Bildschirme und Browser. Das ist der große Trend, den wir sehen, und es ist nicht nur ein Trend in der Bibliothekswelt. Es ist insgesamt der große IT-Trend der Zeit. Diesen Trend sehen auch die Universitätsleitungen und sie drängen ihre Bibliotheken, die Infrastrukturen in die Cloud zu bringen. Bei den öffentlichen Bibliotheken kommt der Druck von den zuständigen Regierungs- und Verwaltungsstellen, die Kosten sparen wollen. Ich bin überzeugt, dass diese systemische Weiterentwicklung nicht zu stoppen ist. Es geht um Kosteneffizienz. Cloudlösungen reduzieren die Gesamtkosten.

„Studenten und Forscher bewegen sich bereits in verschiedensten Quellen im Internet, um ihre Kommunikations- und Informationsbedürfnisse zu lösen. Daraus ergibt sich sehr aktuell die Aufgabe, die Bibliotheksinfrastruktur an die Internetinfrastruktur anzuschließen, um die hoch qualitativen Informationen der Bibliotheken zu diesen Nutzern zu bringen.”
Hat das deutsche Bibliothekswesen besondere Herausforderungen zu lösen, um bei der Transformation erfolgreich mitzuspielen? Oder stehen alle Länder vor denselben Aufgaben?

Eric van Lubeek: Die Antwort muss man trennen nach wissenschaftlichen Bibliotheken (WB) und öffentlichen Bibliotheken (ÖB). Bei den WB gibt es viele globale Trends, die für alle Länder gleich sind: Studenten und Forscher bewegen sich bereits in verschiedensten Quellen im Internet, um ihre Kommunikations- und Informationsbedürfnisse zu lösen. Daraus ergibt sich sehr aktuell die Aufgabe, die Bibliotheksinfrastruktur an die Internetinfrastruktur anzuschließen, um die hoch qualitativen Informationen der Bibliotheken zu diesen Nutzern zu bringen.

Wenn aber das Entwicklungsziel in der Informationswissenschaft ist, die Inhalte zum Nutzer zu bringen, also die Essenz der Publikation, wozu muss ich dann noch wissen, von welcher Bibliothek die Information und das Material kommt? Bei einem Flugzeug, das mich von A nach B bringt, kenne ich die Lieferanten der Triebwerke ja auch nicht.

Eric van Lubeek: Ich stimme Ihnen zu. Am Ende geht es tatsächlich nicht um die Bibliothek, wie wir sie heute kennen. Aber der bibliothekarische Service für die Nutzer wird in der digitalen Wissensvermittlung immens wichtig. Hier besteht das Risiko, dass die Bibliotheksnutzer und die Entscheidungsgremien in Universitäten und in der öffentlichen Verwaltung nicht verstehen, welche Rolle Bibliotheken auch in der modernen digitalen Wissensversorgung erfüllen. Deshalb muss jede Bibliothek ihre Besonderheiten herausstellen, ihre speziellen Kollektionen und Dienstleistungsangebote sichtbar machen. Und sie muss dafür sorgen, dass sie bei relevanten Suchanfragen im Web gefunden wird. Das sind die großen Herausforderungen für alle Bibliotheken auf der Welt.

In den USA, in England und nun auch in den Niederlanden kommt noch der Trend zu ‚shared print‘ hinzu. Die Verantwortlichen argumentieren, dass Archivierung und Bestandserhaltung von physischen Materialien an vielen verschiedenen Orten zu teuer ist. Ein mögliches Modell ist z.B. die Einlagerung der Bestände in zwei oder drei zentralen Magazinen im Land mit angepassten Zugriffs- und Liefermöglichkeiten zu den einzelnen Bibliotheken. Es ist ein neuer Trend. In Deutschland sehe ich ihn aber noch nicht so stark.

Heißt das, ein großer Teil der Bibliotheken wird verschwinden?

Eric van Lubeek: Nein. Ich denke, Bibliotheken werden als Servicestellen bestehen bleiben und sie werden auch ein attraktiver Ort sein, wo Menschen studieren können und wo immer noch Materialien zur Benutzung zur Hand sind. In den ÖBs in Amerika und in Skandinavien sind Makerspaces und Fab Labs, kleine Fabrikationslabore für digitale Produktionen und Hardware-/Software-High-Tech-Experimente, ganz stark im Kommen. Bibliotheken stellen alle Arten bestens ausgestatteter Räume zur Verfügung, damit sich Nutzer dort treffen und gemeinsam arbeiten können. Das ist ein neuer Trend; und er ist sehr stark, aber natürlich in den verschiedenen Ländern auf unterschiedlichem Entwicklungsstand. Das Schwierigste in dieser Situation für Bibliotheken ist, herauszufinden, was denn nun eine tatsächlich wichtige Entwicklung ist und was nur ein Trend, der kommt und geht.

Was ich zu den wissenschaftlichen Bibliotheken gesagt habe, ist meiner Meinung nach mehr als ein Trend: Das Internet als Arbeitsumgebung der Forschung, Open Linked Data, Open Science, Open Access, das ist alles da. Wir befinden uns in einer Transition. Es findet ein Paradigmenwechsel statt.

Für die WB ist die Richtung aus Ihrer Sicht also klar. Wohin steuern sie Ihrer Meinung nach?

Eric van Lubeek: Sie ändern ihr Denken weg vom Aufbau eigener Bestände hin zu Services, ausgerichtet am Bedarf der Nutzer. Sie versuchen einfachen Zugang zum Wissen bereitzustellen und dort zu sein, wo ihre Kunden sich bewegen.

Im Falle von Wissenschaftlern als Bibliotheksbenutzer kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Unterstützung beim Erstellen der Publikation. Bibliotheken haben eine große Expertise, wenn es um Nachnutzen von Wissen geht, um das Zugänglichmachen für andere. Ich glaube, sie werden die Wissenschaftler immer mehr darin unterstützen, das erforschte Wissen so aufzubereiten, dass es so gut wie möglich nachnutzbar ist und verbreitet werden kann. Dies schließt auch die Roh-Daten vieler Forschungsprojekte ein.

„Es ist sicherlich eine herausfordernde Zeit, in der wir leben. Aber sie bietet auch ganz neue Chancen und Möglichkeiten. Früher war es in der Bibliothek beinahe so, wie in einem Laden: Man wartete, bis die Kunden kamen. Heute kann man auf sie zugehen, kann seine Services aktiv nach außen tragen, kann neue Zielgruppen ansteuern, kann entwickeln... Es ist eine sehr spannende Zeit.”
Wie unterstützt OCLC die Bibliotheken in diesen herausfordernden Zeiten?

Eric van Lubeek: Die Mission von OCLC ist eine starke partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Bibliotheken der Welt. Unserer Zielsetzung „connect the world‘s libraries“ entsprechend stellen wir Infrastruktur und Anwendungsservices bereit, damit Bibliotheken auf internationaler Ebene miteinander arbeiten können. Wie das funktionieren kann, dafür ist der WorldCat das beste Beispiel. Er hat sich zum größten globalen Katalog von Katalogen entwickelt. Was im WorldCat vorhanden ist, muss man nicht mehr selbst katalogisieren. Man muss sich nur ankoppeln.

OCLC versucht, dieses Zusammenschalten für alle am WorldCat teilnehmenden Bibliotheken auf der ganzen Welt zu managen?

Eric van Lubeek: Diese Aufgabe hat sehr viele Facetten und sie ist in der Tat viel zu groß, als dass wir sie allein bewältigen könnten. OCLC hat in den USA und in den Niederlanden die Aufgabe übernommen, direkt mit den Bibliotheken zu arbeiten und alle notwendigen Dienste wie z.B. Qualitätssicherung zu übernehmen. In den meisten anderen Ländern übernehmen diese Aufgaben langjährige Partner, auf die wir auch in Zukunft bauen. Aus dieser Zusammenarbeit und daraus bedingten regionalen Gegebenheiten und örtlichen Präferenzen ergeben sich teilweise neue technische und organisatorische Anforderungen an WorldCat. Wenn wir den WorldCat in Deutschland anbieten, sollte er auch in der Datenanzeige und in der Bedienung den Erwartungen des Landes entsprechen, ein deutsches „Look&Feel“ haben. Das heißt im Klartext, wir sollten in der Lage sein, deutsche Titeldaten mit Priorität anzuzeigen und z.B. mit den deutschen Normdaten direkt zu verknüpfen. Und wenn Sie einen Button berühren, öffnet sich die Tür zum globalen Datenraum.

Wenn die Services aller Bibliotheken der Welt über einen zentralen Umschlagplatz laufen - ist das Ihrer Meinung nach eine gute Entwicklung?

Eric van Lubeek: Man kann eine solche Transformation nicht aufhalten, schon allein aus Kostengründen. Die Nutzung der neuen Technologie ist für Bibliotheken extrem kosteneffektiv und effizient. Vergleichbare Trends bei der Migration in die Cloud gibt es im Finanzwesen und beim elektronischen Kundenbeziehungsmanagement mit CRM-Systemen. Warum also sollte ein Bibliothekssystem nicht in die Cloud migrieren? Das globale Netz ist der Platz, wo Information stattfindet.

Wie sieht es denn mit der Rechtslage in der Cloud aus?

Eric van Lubeek: CRM-Systeme und Finanzdaten sind für kommerzielle Unternehmen außerordentlich wichtig. Natürlich erfordert das sehr gute Verträge, eine hohe Datensicherheit und klare Regeln für die Datenspeicherung usw. Das kann man auf Bibliotheksanwendungen übertragen. Unser System beinhaltet selbstverständlich vertragliche Regelungen.

In den Verträgen werden Regelungen zur Datensicherheit und zum Datenschutz getroffen? Sind das global gültige Regelungen oder gibt es für jedes Land spezielle Verträge?

Eric van Lubeek: In Europa unterstehen wir den europäischen Gesetzen zur Datensicherheit und in Deutschland, als Teil der Europäischen Union, gelten diese Gesetze. Für Europa wird es andere Schutzmaßnahmen geben als für Amerika.

Und OCLC kann das alles tatsächlich umsetzen?

Eric van Lubeek: Ja, wir müssen es ja auch. Es ist vertraglich zugesichert.

Die technische Basis für die Zusammenführung der Bibliotheken ist WorldShare. 375 Bibliotheken haben WorldShare bis dato lizenziert. In Europa sind es 11, die meisten zur Zeit in den Niederlanden. Wo stehen Sie in Deutschland?

Eric van Lubeek: In den Niederlanden sind fünf LBS-Kunden dabei, ihre Systeme nach WorldShare zu migrieren. Die erste Einrichtung war natürlich schwieriger als die fünfte. Es nimmt Fahrt auf und wird immer effizienter.

Eine gewisse landesbezogene Standortanpassung für WorldShare ist notwendig, damit eine technische Lokalisierung innerhalb des Softwaresystems durchgeführt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Landessprache, sondern auch um die Verknüpfung mit Normdateien und die Möglichkeit, spezifische Regeln zu setzen, eben auch, um besondere Vorschriften einhalten zu können. Das heißt für OCLC, wir müssen die Länder nach und nach erschließen. Gerade haben wir die ersten Verträge mit Italien, Frankreich und Spanien unterzeichnet. In Deutschland starten wir in diesem Jahr mit Pilotprojekten. Wenn wir wissen, wie alles zusammenspielt, bauen wir darauf weitere auf. Wir haben aber noch keinen Zeitplan dafür. Wir wollen erst sehen, wie die Piloten laufen und dann werden wir sehen, wie sich die Annahme entwickelt.

Herr van Lubeek, Sie als gelernter Bibliothekar, würden Sie all diese Entwicklungen heute gerne als Bibliotheksdirektor begleiten?

Eric van Lubeek: Es ist sicherlich eine herausfordernde Zeit, in der wir leben. Aber sie bietet auch ganz neue Chancen und Möglichkeiten. Früher war es in der Bibliothek beinahe so, wie in einem Laden: Man wartete, bis die Kunden kamen. Heute kann man auf sie zugehen, kann seine Services aktiv nach außen tragen, kann neue Zielgruppen ansteuern, kann entwickeln... Es ist eine sehr spannende Zeit.

Also begleiten Sie diese Entwicklungen gerne?

Eric van Lubeek: Ja. Ich bin seit 30 Jahren im Bibliotheksgeschäft und ich hatte nie einen Grund, in eine andere Branche zu wechseln. Die Bibliothekswelt ist eine sich schnell vorwärtsbewegende Welt und nun bewegt sie sich von der reinen Informationsbereitstellung in Richtung aktive Wissensversorgung und in die IT-Welt. Das finde ich alles auch nach 30 Jahren immer noch sehr spannend!

Herr van Lubeek, wir danken Ihnen für das Interview.

 


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