29. März 2024

Beitrag aus der kommenden, neuesten Ausgabe 2/2020 von Library Essentials

Corona-Virus legt Ineffizienzen des Wissenschaftsbetriebs offen

Während diese Zeilen geschrieben werden, ist nicht absehbar, welche Auswirkungen die Epidemie des Coronavirus (COVID-19) haben wird, und in welche Richtung(en) sie sich entwickeln wird. Schon jetzt fallen zahlreiche Veranstaltungen, wie die Leipziger Buchmesse, diesem Virus zum Opfer.

Allerdings werden durch diese Erkrankung auch einige unangenehme Realitäten des bestehenden Wissenschaftssystems offenbar. Zumindest wirft ein kritischer Kommentar auf dem Blog der London School of Economics and Politics dem bestehenden Wissenschaftssystem vor, nicht in erster Linie der Wissenschaft und der Gesellschaft zu dienen. Vielmehr werde durch diese Krise erkennbar, wie nachteilig das bestehende geschlossene System sei. Es verhindere mehr oder weniger, dass notwendige Informationen allen an der Entwicklung eines Impfstoffes beteiligten Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden. Situationen wie die aktuelle sollten immer als Chance verstanden werden, lange bestehende Systemfehler zu beseitigen. Die Finanzkrise 2008 beispielsweise wurde genutzt, um Fehlentwicklungen im Bankensystem anzugehen. Auch wenn in einigen Ländern versucht wird, diese Bestrebungen wieder umzukehren, haben sich diese Maßnahmen zumindest auf dem Papier („Stresstests“) bisher als erfolgreich erwiesen.

Die Autorin und die zwei Autoren betonen in ihrer Kritik besonders zwei Ineffizienzen des bestehenden Forschungssystems, die durch diese Krise sichtbar werden. Erstens ist und bleibt es die Norm für das wissenschaftliche Publikationswesen, dass wir es hier überwiegend mit einem geschlossenen System zu tun haben. Und zweitens gibt es in der Wissenschaft eine Übergewichtung von elitären, ausschließlich englischsprachigen Publikationen. Diese Aussage gilt unabhängig vom Kontext und den Folgen für die Forschung. Damit trifft dieser Beitrag tatsächlich zwei Schwachpunkte des bestehenden Wissenschaftsbetriebs. Bis jetzt hat von den großen führenden kommerziellen Verlagen lediglich Springer Nature seine Publikationen zum Thema Coronavirus ohne jegliche Einschränkungen geöffnet, damit Forscher weltweit Zugriff auf diese Informationen haben. Elsevier hat zumindest einen Teil, nämlich über 2.400 Publikationen, als Open-Access-Artikel frei zugänglich gemacht.

Die Verfasser dieses Beitrags fordern deshalb, dass Forschung sofort zugänglich gemacht werden muss und nicht hinter Paywalls versteckt werden darf. Zusätzlich sollten gleichzeitig Anreize zur Wissenschaftskommunikation für alle Interessengruppen geschaffen werden. Die wissenschaftliche Reaktion auf COVID-19 hätte einige der Vorteile durch die Öffnung des Wissenschaftssystems gezeigt. Dazu zählt eine innerhalb kürzester Zeit entstandene Flut von Papieren, die sofort mittels Preprint-Servern ausgetauscht werden. Außerdem gibt es eine offene Zusammenarbeit und Diskussion von Wissenschaftlern unter Nutzung von Social-Media-Plattformen, was die beschleunigte Modellierung der viralen Genome ermöglicht. Das wird jedoch vergeblich gewesen sein, wenn sich das Wissenschaftssystem nicht grundlegend wandelt. Nötig wäre aber in dieser Situation, dass alle publizierten Forschungsarbeiten von allen Verlagen kostenfrei für an diesem Problem arbeitenden Wissenschaftler und auch für die interessierte Öffentlichkeit abrufbar wären.

Ob damit alles auf Open Access umgestellt werden sollte, ist eine andere Frage. Die Blogger sind zwar dieser Meinung, aber Open Access ist nicht die Lösung für alle Probleme im bestehenden Wissenschaftsbetrieb. Eventuell wäre es sinnvoller und einfacher, in solchen globalen Krisen den politischen Entscheidungsträgern das Recht einzuräumen, solche geschlossenen Datenbanken einfach zwangsweise öffnen zu lassen, z. B. im Rahmen einer Notverordnung. Etwas ähnliches hat Taiwan zur Eindämmung von COVID-19 getan. Es zapfte die Datenbanken der Krankenkassen und Zuwanderungsbehörden an, um potenziell infizierten Menschen per SMS Warnhinweise zukommen zu lassen. Solche Einschnitte in die persönlichen Freiheiten und Grundrechte sind natürlich immer ein zweischneidiges Schwert.

Das global sich schnell ausbreitende Corona-Virus zeigt wieder einmal, wie verletzlich unsere hoch-technologisierten Gesellschaften sind. Und wie schnell auch der Mantel der Zivilisation in solchen Fällen fallen kann (Stichwort: Hamsterkäufe). Und es zeigt weiterhin, dass wir gemeinsam alle auf einem einzigen Planeten leben und nicht in einem bestimmten Land XY. Gebraucht wird also mehr internationale Zusammenarbeit statt noch mehr nationale Alleingänge. Das betrifft nicht allein die Wissenschaft. Das Corona-Virus sollte aber nicht nur in dieser Hinsicht als eine Chance verstanden werden, das teilweise veraltete, im analogen Zeitalter gegründete Wissenschaftssystem auf seine Tauglichkeit für das heutige Leben und die Gesellschaft genauer zu überprüfen.

Quellen:
Larivière, Vincent; Shu, Fei; Sugimoto, Cassidy; “The Coronavirus (COVID-19) outbreak highlights serious deficiencies in scholarly communication“; Blogbeitrag vom 5. März 2020, https://blogs.lse.ac.uk/impactofsocialsciences/2020/03/05/the-cornoavirus-covid-10-outbreak-highlights-serious-deficiencies-in-scholarly-communication/

Schlagwörter:
Coronavirus, Open Access, Paywalls, wissenschaftliches Publikationswesen, Wissenschaftssystem