20. April 2024
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In der Ausgabe 2/2024 (März 2024) lesen Sie u.a.:

  • „Need to have”
    statt „nice to have”.
    Die Evolution
    der Daten in der Forschungsliteratur
  • Open-Access-Publikationen: Schlüssel zu höheren Zitationsraten
  • Gen Z und Millennials lieben
    digitale Medien UND Bibliotheken
  • Verliert Google seinen Kompass?
    Durch SEO-Spam werden
    Suchmaschinen zum Bingospiel
  • Die Renaissance des gedruckten Buches: Warum physische Bücher in der digitalen Welt relevant bleiben
  • KI-Halluzinationen: Ein Verwirrspiel
  • Die Technologie-Trends des Jahres 2024
  • KI-Policies und Bibliotheken: Ein globaler Überblick und Handlungsempfehlungen
  • Warum Bücherklauen aus der Mode gekommen ist
u.v.m.
  fachbuchjournal
Ausgabe 6 / 2023

BIOGRAFIEN
Vergessene Frauen werden sichtbar

FOTOGRAFIE
„In Lothars Bücherwelt walten magische Kräfte.“
Glamour Collection, Lothar Schirmer, Katalog einer Sammlung

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
Hingabe an die Sache des Wissens

MUSIK
Klaus Pringsheim aus Tokyo
Ein Wanderer zwischen den Welten

MAKE METAL SMALL AGAIN
20 Jahre Malmzeit

ASTRONOMIE
Sonne, Mond, Sterne

LANDESKUNDE
Vietnam – der aufsteigende Drache

MEDIZIN | FOTOGRAFIE
„Und ja, mein einziger Bezugspunkt
bin ich jetzt selbst“

RECHT
Stiftungsrecht und Steuerrecht I Verfassungsrecht I Medizinrecht I Strafprozessrecht

uvm

Nachruf auf Dr. Gerhard Stamm

Am 24. Juli 2011 verstarb in Karlsruhe im Alter von 77 Jahren Dr. Gerhard Stamm. Er war von 1973 bis 1996 Leiter der Handschriftenabteilung der Badischen Landesbibliothek. Mit der Veröffentlichung von drei gedruckten Katalogen machte die wissenschaftliche Beschreibung der Handschriften der Badischen Landesbibliothek in seiner Amtszeit einen großen Sprung nach vorn. Das deutsche Bibliothekswesen verliert mit Gerhard Stamm einen seiner profundesten Kenner des Alten Buches.

Gerhard Stamm wurde am 7. Juni 1934 in Attendorn als Sohn eines Bundesbahnbeamten geboren. Nach dem 1954 abgelegten Abitur entschied er sich für das Studium der Fächer Deutsch und Latein. Zunächst schrieb er sich in Münster ein, wo er das Graecum bestand, dann in Innsbruck und Mainz. Nach erfolgreichem Staatsexamen wechselte er an die Universität Würzburg, wo er 1967 von dem Schweizer Mediävisten Kurt Ruh promoviert wurde. Seine Dissertation, die 1969 in der Münchener Reihe „Medium Aevum“ im Druck erschien, widmete sich dem „Schwarzwälder Prediger“, der Ende des 13. Jahrhunderts eine Kollektion von Musterpredigten zusammengestellt hatte und mit dem Schwarzwälder Kloster St. Georgen in Verbindung stand (und unter diesem Namen heute noch in der SWD angesetzt wird). Statt für den Schuldienst entschied sich Stamm für die Bibliothekslaufbahn und leistete sein Bibliotheksreferendariat an der Universitätsbibliothek Freiburg. Dem dortigen Brauch folgend schrieb er seine Kölner Assessorarbeit über die Geschichte der Bibliothek, wobei er den Zeitraum „vom Dienstantritt Heinrich Josef Wetzers (1850) bis zur Auflösung der Bibliothekskommission (1888)“ wählte – eine Arbeit, die es außerhalb Freiburgs nur als elektronische Ressource gibt; sie wurde von der UB Freiburg digitalisiert und ins Netz gestellt.

Am 1. April 1969 trat Gerhard Stamm seine erste Stelle an, an der Badischen Landesbibliothek (BLB) in Karlsruhe, der er bis zu seiner Pensionierung im Alter von 62 Jahren am 1. Juli 1996 treu verbunden blieb. 27 Jahre wirkte er in der BLB, zunächst als Fachreferent für Germanistik und Latein, wegen seiner vielseitigen Begabung dann aber auch für Musik, Naturwissenschaften und Theologie. Zeitweilig oblag ihm die Führung des Systematischen Kataloges und der Ausbildung. Schon während seiner praktischen Ausbildung hatte er sich als Handschriftenbibliothekar qualifiziert, und so verwundert es nicht, dass er die Gelegenheit ergriff, die Nachfolge von Kurt Hannemann anzutreten, dem Leiter der Handschriftenabteilung, der 1973 in den Ruhestand ging. Als Stamm Jahre später seinem Vorgänger einen Nachruf widmete (ZfBB 39, 1992, S. 274f.), charakterisierte er ihn als Wissenschaftler ohne große Ambitionen auf dem Gebiet der modernen Bibliotheksverwaltung. „Allerdings zeigte er sich stets auf vorbildlichste Weise um die Benutzer der Handschriftensammlung bemüht, sei es durch beratende Gespräche oder durch eine ausgedehnte Korrespondenz, in der sich stets Liebenswürdigkeit mit tiefschürfender, umfassender Problemdiskussion glücklich vereinigte.“ Man wird nicht irren, wenn man diese Sätze auch als Stamms eigene Leitlinie für sein Wirken in der Handschriftenabteilung deutet.

Mit großer Tatkraft widmete sich Gerhard Stamm der Katalogisierung der Handschriften. Deren bereits unter Wilhelm Brambach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene Erschließung und die damals einsetzende Herausgabe gedruckter Handschriftenkataloge fanden in der Amtszeit Stamms eine Fortsetzung. Unter seiner Leitung und mit finanzieller Unterstützung der DFG sind in dieser Zeit durch Mitarbeiter der Abteilung Hunderte von Handschriften nach den Richtlinien der DFG beschrieben worden. Es entstanden Kataloge für die Säkularisationsbestände aus den ehemaligen Klöstern St. Peter (1984), Lichtenthal in Baden-Baden (1987) und St. Blasien (1991) sowie ein Sammelband mit den Beschreibungen der sog. kleinen Provenienzen (2000); in der Zählung der Reihe „Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek“ handelt es sich um die Bände 10.2, 11, 12 und 13. Die Einführungen zu den Katalogen schrieb Stamm gemeinsam mit den jeweiligen Bearbeitern Felix Heinzer, Peter Höhler und Armin Schlechter. Außerdem betreute er in dieser Zeit den Neudruck der älteren, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts publizierten Bände des genannten Werks.

In seine Amtszeit fällt auch die Herausgabe verschiedener Faksimiles, für die er ebenfalls einleitende wissenschaftliche Beiträge verfasste. So schrieb er mit am Kommentarband zum Stundenbuch des Markgrafen Christoph I. von Baden (1978), führte in die Faksimileedition des Karlsruher Tulpenbuches ein (1982) und gab den Kommentar zum Faksimile einer der schönsten Handschriften der Badischen Landesbibliothek heraus, nämlich zum Electorium parvum seu breviculum des Raimundus Lullus, auch bekannt als Handschrift St. Peter perg. 92 (1988).

Rege beteiligte sich Stamm an der öffentlichen Präsentation der Bücherschätze im Rahmen von Ausstellungen; er lieferte die Begleittexte, auch Beiträge für Ausstellungskataloge. Als ein Beispiel hierfür mag die Ausstellung über Leopold Ziegler 1978/79 gelten, durch die dieser in Karlsruhe geborene Kulturphilosoph wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde. Es gehört zu den herausragenden Aufgaben von alten Bibliotheken, Aufmerksamkeit und Wertschätzung für das bei ihnen aufbewahrte Kulturerbe zu wecken und ihre Bestände im kulturellen Gedächtnis zu halten; dieser Zielsetzung ist Stamm engagiert nachgekommen.

Bei den Mitarbeitern seiner Abteilung, aber auch bei den Kollegen der Bibliothek erfreute sich Stamm großer Beliebtheit; dass er sich seinerseits für die Belange des Personals einsetzte, geht aus seiner Tätigkeit als stellvertretender Vorsitzender des Personalrats hervor. Junge Kolleginnen und Kollegen vermochte er für die historischen Bestände zu begeistern und für die Besonderheiten, aber auch die Schutzwürdigkeit des Alten Buches zu sensibilisieren. Seine breiten, über das Gebiet der Handschriftenkunde hinausreichenden Kenntnisse und Interessen wurden nicht nur von der eigenen Direktion, sondern auch im Karlsruher Kollegenkreis gewürdigt; diesem gehörte auch seine Frau Annelies an, die bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2000 als Fachreferentin an der UB Karlsruhe tätig war. Am Bibliothekarlehrinstitut in Köln waren sich beide erstmals begegnet.

Aufgrund seiner bescheidenen Art hatte Gerhard Stamm nie das Bedürfnis im Mittelpunkt zu stehen. Er war kein Mann großer Auftritte; vielleicht machte sich hier seine sauerländische Herkunft bemerkbar. Aber sein Wort hatte Gewicht, denn als wissenschaftlicher Experte für Handschriften und Handschriftenkunde genoss er einen ausgezeichneten, weit über seine Wirkungsstätte hinausstrahlenden Ruf. Erstaunlicher Weise verspürte er nicht das Bedürfnis, seine fundierten Kenntnisse und Forschungsergebnisse in schriftlicher Form zu verbreiten; sieht man einmal von den Handschriftenkatalogen ab, dann ist die Zahl seiner Veröffentlichungen überschaubar geblieben.

Gerhard Stamm gehörte zu jener Generation von Bibliothekaren, die das berufliche und persönliche Interesse am Alten Buch in idealer Weise miteinander verbinden konnten. Wenn er in der Mittagspause durch die Karlsruher Antiquariate zog, dann war er auch auf der Suche nach Titeln, die ihm zur retrospektiven Bestandsergänzung geeignet schienen, denn die Badische Landesbibliothek hatte im Zweiten Weltkrieg nahezu ihren kompletten Druckschriftenbestand verloren. In erster Linie war er aber in eigener Sache unterwegs, denn er besaß selbst eine große, unter bibliophilen Gesichtspunkten zusammengetragene Büchersammlung, die, unter dem kritisch-wohlwollenden Blick seiner Frau, kontinuierlich wuchs. Sein besonderes Augenmerk galt allen Drucken, die in irgendeiner Weise mit Baden in Beziehung standen, und sei es allein wegen ihres Druckortes. Aufgrund seiner eigenen Leidenschaft für Bücher fiel es ihm leicht, die Interessen der Bibliophilen ernst zu nehmen, die sich in Karlsruhe zu einem eigenen Zirkel unter dem Dach der Badischen Bibliotheksgesellschaft zusammengeschlossen haben. Sie waren ihm stets willkommen; gerne kam er individuellen Wünschen nach und zeigte die verlangten Stücke.

Der Privatmann Gerhard Stamm liebte die Natur und das Wandern. In Kontakt mit der Landwirtschaft aufgewachsen, studierte er nebenbei auch Biologie, weshalb er sich in der Welt von Flora und Fauna ebenfalls bestens auskannte. Die Begeisterung für Natur und Landschaft Skandinaviens führte die Familie im Sommer häufig nach Schweden. Auf Betriebsausflügen der Landesbibliothek gehörten Wanderungen unter Stamms Führung zum Standardprogramm.

Die Badische Landesdbibliothek bewahrt Gerhard Stamm ein ehrendes Andenken und ist dankbar, ihn über ein ganzes Berufsleben in ihrer Mitte gehabt zu haben.

Ludger Syré