Unterricht mit Abwesenden, Medienbestand ohne Nutzer
Wie das Coronavirus der Fernlehre plötzlich zum Durchbruch verhalf und Bibliotheken sich kreative Lösungen einfallen lassen mussten, um nicht ihre Nutzer und Nutzerinnen zu verlieren. Ein Erfahrungsbericht aus der Schweiz.
Stephan Holländer
In der ersten März-Hälfte erfolgte ein tiefer Einschnitt im europäischen Alltagsleben. Von einem Tag auf den anderen schlossen Hochschulen und Bibliotheken auf Geheiß von Regierungen ihre Tore. Kreative Lösungen waren nun gefragt. Ganz unerwartet kamen die Einschränkungen, die der Schweizer Bundesrat am 13. März verkündete, nicht. Bereits am Donnerstag und Freitag jener Woche waren wir Dozierende aufgefordert, Fernlehre im „gemischten Betrieb“ zu testen, da die italienischen Studierenden bereits nicht mehr in die Schweiz einreisen konnten. Präsenzunterricht in Zürich bei gleichzeitigem Fernunterricht übers Internet war die Lösung für den Moment. So war eine erste Annährung an die nun kommende Unterrichtsform möglich geworden, die in den Wochen nach der Aussetzung des Präsenzunterrichts den Unterricht zu überbrücken hatte.
In den Tagen danach hatten sich Rektorate an die Dozierenden gewandt und diese aufgefordert, ihre als Präsenzveranstaltungen geplanten Vorlesungen, Seminare und Übungen so gut wie möglich durch digitale Formen des sogenannten „Distance Teaching and Learning“ zu ersetzen. Das war leichter gesagt als getan, denn die wenigsten der Dozierenden hatten bereits Erfahrungen mit solchen Unterrichtsformen gesammelt. Einzelne Hochschulen setzten den Unterricht für eine Woche vorübergehend aus, um den Lehrenden die Möglichkeit zu geben, ihre Vorlesungen und Seminare „internetfähig“ zu machen.
Dies war eine (zu) kurz bemessene Zeit für die Umstellung des Unterrichts und brachte viel Arbeit am Schreibtisch rund um die Uhr mit sich. Als zusätzliche Herausforderung stand ins Haus, eine Vorlesung in französischer Sprache innerhalb kürzester Zeit neu zu konzipieren. Da war es hilfreich, auf langjährige Kontakte zu französischsprachigen Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen zu können, die ich vor Jahren auf Tagungen in Frankreich kennengelernt hatte und die in ähnlichen Fachgebieten unterrichteten. Nach einem Aufruf wurden Unterrichtsmaterialien wie PowerPoint-Präsentationen, Skripte, Übungsblätter und Vorlesungsmanuskripte über eine Dropbox miteinander ausgetauscht. Ohne diese kollegiale Hilfe wäre ein so schneller Neustart mit Fernlehre übers Internet nicht möglich gewesen.
Eine zweite Herausforderung waren die nun geschlossenen Bibliotheken. Was man an seiner Bibliothek hat, weiß man natürlich nicht erst, wenn sie geschlossen ist. Was die heimische Handbibliothek nicht hergab, war außer Reichweite. Bei der Umarbeitung des Unterrichts wurde mir dies besonders bewusst. Ein VPN-Zugang zum Online-Angebot der Fachbibliothek meines Vertrauens war noch nie so wertvoll wie jetzt. Schwierig wurde es dann, als ich Fachliteratur in einer anderen Landessprache benötigte, was in der Schweiz je nach Lehrauftrag durchaus vorkommt. Da ist der Austausch mit Kollegen anderer Hochschulen, die gleiche Fächer unterrichten, wichtig. Gegenseitige Hilfe erscheint mir in diesen Zeiten selbstverständlich zu sein. Vielleicht hat ein Kollege ein benötigtes gedrucktes Fachbuch oder einen Fachartikel gerade zur Hand, die man sich dann mit der Post zuschicken kann. Einzelne wissenschaftliche Bibliotheken boten auch eine Ausleihe per Post an und stellten Rückgabeboxen vor der geschlossenen Tür auf. Die Stadtbibliothek Basel bot eine Ausleihe per Fahrradkurier an und verwies auf ihr Onleihe-Angebot. Bei den wissenschaftlichen Bibliotheken wurde ich relativ rasch auf das Angebot der Zentralbibliothek Zürich aufmerksam, die einen Versand der Medien per Post anbot; einige weitere Bibliotheken zogen dann in der Folge nach. Fachhochschulbibliotheken blieben aber in der Regel geschlossen.
Recherchen im Internet und in Fachdatenbanken schafften nur stückweise Ersatz, um etwaige Lücken für den Online-Unterricht zu schließen. Neue Unterrichtsformen waren gefragt. Hier war die Handreichung einer didaktisch versierten Kollegin aus Süddeutschland hilfreich, die in kurzer Frist eine Checkliste für den Fernunterricht im Internet verfasste. Nun galt es, den Unterricht neu zu gestalten, abwechselnd Präsenzmomente mit mir bis dahin nicht vertrauten Unterrichtsformen wie Quiz, Pecha Kucha und Übungen für das Selbststudium während der Vorlesung zu verknüpfen. Da die heutigen Studierenden mit Video und DVD aufgewachsen sind, galt es, auch Videoausschnitte von verschiedenen Videoplattformen und Plattformen öffentlicher TV-Anbieter zu nutzen, die diesbezüglich viele Videos freischalteten. Ein Angebot, das von den Studierenden sehr gerne angenommen wurde, wie sich in der Folge zeigte.
Blieb noch als dritte Herausforderung, sich mit der Videokonferenzsoftware für den Unterricht vertraut zu machen. Hier leisteten die Assistenten der jeweiligen Hochschulen hervorragende Arbeit. Sie nahmen die älteren Dozierenden an die Hand und machten sie in einem Crashkurs „fernlehrefit“. Meine Begeisterung hielt sich anfänglich im Promillebereich, aber ich ließ mich in der Folge von ihrer Begeisterung für diese Unterrichtsmöglichkeit anstecken. Mit jedem Vorlesungstermin stieg meine Sicherheit im Umgang mit der Software und den von ihr gebotenen verschiedenen Funktionalitäten. Da ich für verschiedene Hochschulen als Lehrbeauftragter arbeite, musste ich mich auch mit den unterschiedlichen Softwarelösungen der jeweiligen Hochschulen auseinandersetzen. Die Videokonferenzsysteme sind zwar alle ähnlich konzipiert, unterscheiden sich aber in ihrem jeweiligen Funktionalitätsumfang. Dies erwies sich für mich als Knacknuss, da ich in der einen Softwarelösung während der Vorlesung nach einer Funktionalität suchte, die nur in der Softwarelösung einer anderen Hochschule zur Verfügung stand. Mit der Zeit stiegen auch meine Ansprüche an die Möglichkeiten der Software. Das Arbeiten mit virtuellen Arbeitsgruppen während des Fernlehreunterrichts wollte ich jetzt auch nutzen. Ein weiteres meiner Anliegen war, die Möglichkeiten der Interaktion mit den Studierenden zu erweitern. So galt es nun vermehrt, die Chatfunktion zu nutzen. Hier nahmen mich die Assistenten mit einiger Geduld bei der Hand und zeigten mir, wie meine diesbezüglichen Wünsche an den Unterricht umgesetzt werden konnten.
Zusammenfassend lässt sich ein erstes Fazit aufgrund meiner Erfahrungen nach vier Wochen Fernlehre wie folgt ziehen:
- Es gilt, den Präsenzunterricht für die Fernlehre auf das Grundgerüst, den „roten Faden“ der Unterrichtsthematik, zu beschränken. Kein Präsenzunterricht übers Internet sollte länger als max. 15-30 Min. dauern und anschließend beispielsweise durch Selbstlernphasen, virtuelle Gruppenarbeiten und Diskussionsrunden abgelöst werden.
- Bei der Umarbeitung oder Neukonzipierung des Präsenzunterrichts gelten die Grundsätze: „Weniger ist mehr“ und „Mut zur Lücke“. Im Vergleich zum physischen Präsenzunterricht braucht es mehr begleitende Texte und Links, hochgeladene PowerPoint-Präsentationen, Videos von verschiedenen Plattformen. Diese zusätzlichen Dokumente, Videolinks und Dokumentlinklisten sollten in einen entsprechenden Bereich des Moodle-Servers der Hochschule hochgeladen werden und den Studierenden mit einer Mitteilung per E-Mail oder SMS zugänglich gemacht werden.
- Der Unterrichtsablauf mit Zeitangaben zu den einzelnen Lernschritten, begleitet von der Anweisung, welche Unterlagen die Studierenden während der Fernlehre benötigen, sollte ihnen mindestens zwei Tage vor dem Unterricht als E-Mail-Mitteilung zugehen.
- Es hat sich gezeigt, dass wegen der verminderten Ton- und Bildqualität vermieden werden sollte, im Videokonferenzsystem ein Video mit den Studierenden zu teilen. Besser ist es, in dem vorgängig an sie versandten Ablaufplan den Link zum Server anzugeben und während des Unterrichts eine Pause zu machen, damit sich die Studierenden das Video anschauen können.
- Die Moodle-Server sind gegenwärtig oft ausgelastet. Also habe ich meine Unterrichtsunterlagen in einen passwortgeschützten Teil meiner Webseite gestellt, da diese von einem lokalen Webunternehmen gehostet wird, dessen Kapazitäten weniger ausgelastet sind.
- Die Studienleitung einer meiner Hochschulen hatte mich aufgefordert, meine PowerPoint-Präsentationen für den Unterricht zu vertonen. Da gibt es aber eine Begrenzung beim Hochladen der durch das Vertonen zu umfangreich gewordenen Dateien. Kollegen haben deshalb damit begonnen, ihre Dateien in einzelne Teilpakete zu zerlegen. Ich habe mich entschieden, entweder Erläuterungen zu den Folien im Notizbereich von PowerPoint zu geben oder zusätzlich zu den PowerPoint-Präsentationen ein Word-Dokument mit Erläuterungen auf meiner Webseite zu hinterlegen.
- Nach der Begrüßung zu Beginn des Onlineunterrichts mit Videobild sollte die Videokamera ausgeschaltet werden, da die Bandbreite der Internetverbindung sonst zu niedrig werden kann. Studierende sollten Videokamera und Mikrofon während der Online-Unterrichtsphasen ausgeschaltet lassen und Fragen über das Chatsystem an den Dozenten richten. Diese Fragen können dann in Pausen mündlich über Mikrofon vom Dozenten beantwortet werden.
Zum Schluss sei nicht verschwiegen, dass der Fernunterricht über das Internet nach der Überwindung erster Bedenken Spaß zu machen beginnt. Die Vorbereitungszeit verdreifacht sich in etwa im Vergleich zum Präsenzunterricht. Die Betreuung der Studierenden wird intensiver. Wo früher ein kurzes Gespräch in der Unterrichtspause genügte, erfordern E-Mail-Anfragen ausführliche Antworten. Der Austausch mit Kollegen und der Studienleitung erfolgt jetzt im persönlichen Gespräch über Skype und das Telefon. Gegenwärtig machen wir uns in der Schweiz Gedanken, wie die Semesterendprüfungen online abgehalten werden könnten, denn noch ist zurzeit keine Lockerung der Maßnahmen innerhalb kurzer Frist durch die Regierung in Aussicht gestellt. Gerade Laborprüfungen und andere praktische Prüfungen stellen große Herausforderungen an Studierende und Dozierende, aber auch dafür werden kreative Lösungen gefunden werden. Künftig wird die Fernlehre im Modus „Inverted Classroom“ ein Bestandteil des Unterrichtscurriculums bleiben. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen, davon bin ich überzeugt. Studierende melden mir, dass sie den Fernunterricht als Alternative zu einem Präsenzunterricht in Randzeiten oder an einem Samstag begrüßen würden, aber nicht ausschließlich. Denn der Fernunterricht braucht auf die Dauer eine größere Disziplin bei Dozierenden und Studierenden. Der Präsenzunterricht mit seinen sozialen Kontakten vor oder nach dem Unterrichtstermin wird vermisst. Gerade die direkten Kontakte gewinnen in diesen Zeiten an Wert und Intensität, auch wenn sie jetzt nur mittelbar über Skype oder Telefon möglich sind.
Stephan Holländer
Lehrbeauftragter
Basel
stephan@stephan-hollaender.ch