Aufgrund der außergewöhnlichen Lage
Urska Jana Menart
Wenn sich ein Autor die Entwicklungen der letzten Wochen ausgedacht hätte, würde er sich wohl den Vorwurf gefallen lassen müssen, allzu lehrbuchmäßig den Regeln einer klassischen Groteske zu folgen. Diese zunächst noch harmlos wirkende Randnotiz in den Nachrichten, entwickelt sich vor unseren Augen allmählich in derart extreme Dimensionen, bis das Ganze nun einen Grad erreicht hat, in dem die Wirklichkeit komplett verzerrt zu sein scheint. Und wie in der Groteske, erhält das Furchteinflößende auch für uns dadurch paradoxer Weise plötzlich Züge der Komik.
Von dieser sich stetig enger zuziehenden Schlinge zeugt auch die Historie in unseren E-Mail-Posteingängen. Zunächst findet sich gelegentlich ein scherzhafter Abschiedsgruß, dann häufen sich beiläufige Randbemerkungen. Es folgen erste Mitteilungen des Rektorats und Absagen kleinerer, dann größerer Veranstaltungen. Schließlich jagen sich Ankündigungen und Weisungen einer eilig aufgestellten Taskforce über zunehmend verschärfte Maßnahmen.
Rückkehrer aus internationalen Corona-Hotspots werden für 14 Tage vom Campusleben verbannt. Man richtet eine HSG-interne Corona-Hotline ein und rekrutiert dafür Mitarbeitende aus diversen Ressorts, zwei davon auch aus unserer Bibliothek. Wir werden zu den mittlerweile bestens bekannten Schutzmaßnahmen ermahnt und erweitern unseren Wortschatz um Ausdrücke wie „Office-splitting“ oder „Social-distancing“. Das Konzept „Homeoffice“ kennen wir zwar grundsätzlich, doch was bisher kaum erprobt war, soll nun in die Praxis umsetzen, wer zu den Risikogruppen gehört.
Auch in der Bibliothek selbst zeigen sich erste Anzeichen der nahenden Ausnahmesituation. Infotafeln und Desinfektionsmittelspender schießen aus dem Boden, wie Pilze im Herbstwald. Die Theke erhält zwei Plexiglasschalter mit Durchreiche, der intern prompt zum Spuckschutz umgetauft wird. Unsere Benutzenden reagieren auf diese Trennscheibe wahlweise irritiert oder belustigt. Einige versuchen, sich mit ihren Buchrückgaben seitlich an den Schalteraufbauten vorbei zu mogeln oder bücken sich ungelenk vor, um auf Tischhöhe ihre Anliegen durch die Durchreiche vorzutragen.
Um die Abstandsregeln einhalten zu können, reduzieren wir die so heiß umkämpften Lernplätze um die Hälfte. Da uns aber der Platz fehlt, die überzähligen 230 Stühle wegzuräumen und aufzustapeln, werden sie kurzerhand mit Kabelbindern an den Tischen festgezurrt. Wir kennzeichnen die gesperrten Pulte mit Infoflyern und wundern uns über den weiterhin regen Betrieb auf dem Campus.
Wer von den Benutzenden eine Recherche- oder Schreibberatung benötigt, erhält diese nur noch telefonisch oder per E-Mail. Die Bibliothek selbst bleibt geöffnet, wir reduzieren allerdings die Öffnungszeiten auf wochentags 8 bis 19 Uhr und lassen die aktuellen Arbeitspläne weitgehend unverändert. Business as usual. Nur eben in einer angepassten Gangart. – Das war am Freitag, den Dreizehnten.
Drei Tage später lehrt uns der Schweizer Bundesrat die nächste neue Vokabel, den „Shutdown“. Die Bibliothek ist nun also geschlossen. Die Bibliothek ist sonst niemals geschlossen, oder so gut wie nie. Wer aber glaubt, wir hätten nun Zeit, ein neues Hobby zu erlernen oder den achten Anlauf auf James Joyce’ Ulysses zu nehmen, der irrt sich gewaltig. Shutdown hin oder her, wir wollen im Rahmen des Möglichen weiterhin unseren Benutzenden ein Maximum an Service bieten.
Die aus der Schließung resultierenden Serviceänderungen stellen allerdings unsere Workflows und Einsatzplanung auf den Kopf. Viele Sofort-Entscheidungen müssen getroffen werden und flexibles Umdenken ist gefordert. Wir entscheiden uns, Kopienbestellungen und Postversand für HSG-Angehörige innerhalb der Schweiz kostenlos anzubieten, für externe Benutzende werden die Gebühren stark gesenkt. Ab da werden wir auf allen verbliebenen Kommunikationskanälen mit Anfragen, Reklamationen und vor allem Bestellungen, Bestellungen, Bestellungen bombardiert. Auch wir bauen in unsere Mail-Vorlagen den derzeit omnipräsenten Satzteil ein: „Aufgrund der außergewöhnlichen Lage…“
Nach einer Woche ist klar, der Betrieb muss vorübergehend umorganisiert werden. Die Erreichbarkeit für unsere Benutzenden und unsere Arbeitszeiten werden erneut gekürzt auf 8 bis 17 Uhr. Die gewohnten Einsatzpläne sind damit hinfällig. Für Mitarbeitende, welche vor Ort tätig sind, wird die Präsenzzeit auf ein Minimum reduziert. Trotzdem scannen wir in Zweierschichten pro Tag dutzende von Kopieraufträgen, und bearbeiten und verpacken zu zweit, natürlich in gebotenem Abstand, mehr als das zwanzigfache der sonst täglichen Postversandbestellungen. Eine Obergrenze von je fünf bestellbaren Dokumenten und Kopieraufträgen bremst die Bestellwut unserer Benutzenden schließlich ein wenig. Sie führt allerdings zu weiteren Umtrieben und unweigerlich zu Beschwerden. Auch unser bisheriges Verpackungsmaterial reicht längst nicht mehr aus. Wir räumen also bei unseren Lieferanten die Regale leer, so dass unser Eingangsbereich bald einer Packstation im Versandhandel gleicht. Unsere Hände werden beim Einpacken immer flinker. Nur an den scharfen Kanten der Verpackungskartons handeln wir uns winzige Papierschnitte ein. Solange wir konzentriert arbeiten, wird das rasch vergessen. Aber wehe, wir reiben uns bei der nächsten Pause die Hände arglos mit Desinfektionsmittel ein!
Unser Führungsteam bespricht sich täglich morgens um 9 Uhr auf MS Teams, koordiniert die vielen organisatorischen, technischen und zwischenmenschlichen Veränderungen und wechselt sich mit der Anwesenheit vor Ort ab. Andere verbliebene Kollegen haben sich einzeln in zusätzlich bereitgestellte Büros oder ins Homeoffice zurückgezogen und treffen sich nun eben zum virtuellen Kaffeeklatsch.
Ein erstaunlicher Digitalisierungsschub hat unsere Universität und Bibliothek erfasst. Ob uns das bei den Vorbereitungen für SLSP von Nutzen sein wird? Gerade scheint uns das noch ewig weit hin. Nichtsdestotrotz nehmen die Vorbereitungsarbeiten für SLSP weiterhin ihren Lauf. Ebenso die Vorbereitungen für die Sanierung des gesamten Bibliotheksgebäudes und dem damit verbundenen Auszug aller Mitarbeitenden in Container. Auch die Anbindung an das sich im Bau befindende Learning Center, mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Publikumsbereich der Bibliothek, wird weiterhin emsig aufgegleist.
Der geplante Workshop „Erfolgreich mit Veränderungen umgehen“ hätte uns längst auf diese bevorstehenden Entwicklungen vorbereiten sollen. Doch wie könnte es anders sein, aufgrund der außergewöhnlichen Lage, musste dieser wiederholt verschoben werden, zuletzt auf unbestimmte Zeit. Unterdessen beweisen wir in der Praxis, wir können bereits äußerst erfolgreich mit Veränderungen umgehen. Womöglich dürfte im Herbst ein thematisch angepasster Workshop erforderlich werden: „Erfolgreich in die Normalität zurückfinden“.
Derweil nimmt der Hausdienst die Gelegenheit wahr, die Räumlichkeiten und das Mobiliar der Bibliothek einer umfassenden Grundreinigung zu unterziehen. Wann unsere Bibliothek wieder öffnen wird, ist unklar. Klar ist aber, sie wird dann vom UG bis zur Pyramidenspitze geschrubbt, geputzt und poliert sein, wie für eine Wohnungsabgabe beim Auszugstermin.
Urska Jana Menart
Universität St.Gallen
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